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Editorial

Zuhause ist, wo das Ostjournal ist

die Redaktion
Oktober 2022

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Zuhause ist schon ein merkwürdiger Begriff. Der klingt so heimelig, ohne so bedrückend wie Heimat zu sein. Irgendwie ein Rückzugsort, den man sich schön gemütlich machen kann; wo man so sein kann, wie man will. Ganz viel kann man in den Begriff reinstopfen, wie in eine Wohnung. Denn da kann es auch manchmal ganz schön voll werden. Doch Zuhause ist noch mehr als die vier Wände, in denen man lebt. Es ist ein Gefühl, eine Stimmung, ein Zustand.

Doch das Zuhause ist auch brüchig, bedroht von innen und von außen. Nicht immer real, sondern mitunter in der Fantasie. Letzteres kann schon mal schlimmer sein als ersteres. Das zeigt sich gerade in Krisen. Dann wird das Heim zur Burg, die verteidigt werden muss. Warum und gegen wen überhaupt braucht nicht mehr hinterfragt zu werden. Hauptsache, das Feindbild stimmt.

Wenn die Bedrohung dann doch ganz real ist, bricht etwas zusammen. Dann fehlt etwas. Nun könnte man das auf viele Umbrüche beziehen – das Ende des Realsozialismus zum Beispiel. Weg war der Staat und das alte Leben. Das machte auch vorm Zuhause nicht halt, Ängste und Zweifel und die Suche nach etwas Neuem gehörten dazu.

In solchen Momenten wird schnell mal Zuhause und Heimat verwechselt. So als könnte damit etwas anderes ersetzt werden, eine Fehlstelle ausgefüllt. Das kann zwar Halt geben, doch löst keine Probleme, sondern streichelt eine geschundene Seele. Dann ist das Zuhause gar nicht mehr Zuhause, sondern viel größer und bedrohlicher.

Im Ostjournal haben wir uns diesmal mit dem Zuhause beschäftigt. Nicht weil wir auf einer Meta-Welle reiten wollen, vielmehr geht es um konkrete Erfahrungen und prägende Orte – denn auch das ist Zuhause.

Wir führen aber auch etwas Angefangenes fort. In der letzten Ausgabe hatten wir Beiträge zu Ostidentitäten, die zu Diskussionen führten, so auch auf der Radical Book Fair in Leipzig. Das fanden wir gut und wichtig, weswegen wir die Debatte zukünftig fortführen werden.

Ein Schwerpunkt der Ausgabe ist die Auseinandersetzung mit Extraktivismus. Hinter dem akademisch daherkommenden Begriff versteckt sich eine Form der Ausbeutung von Natur und Mensch. Doch anders als bei der Industrialisierung vergangener Zeiten sind die Folgen keine Fabriken und Stechuhren, sondern abgetragene Landschaften und ausgebeutete Rohstoffe. Nachhaltigkeit sieht anders aus; doch in vielen Teilen der Welt wird auf dieses Modell gesetzt.

Dazu gehört auch Ostdeutschland, wie Thomas Stange in seinem Feature zeigt. Er reiste dafür mit dem Kunstverein ngbk Berlin in die Lausitz, ins Erzgebirge und ins Brandenburgische, wo Tesla produzieren lässt. Die Batterien für die Autos vielleicht aus der Lausitz, und das Lithium dafür könnte bald auch aus Serbien kommen. Roland Zschächner zeichnet den Kampf gegen den Abbau von Lithium in dem Balkanland nach.

Von ganz anderer Art war der Kampf vieler ostdeutscher Aktivist:innen nach ‘89 in der nun gesamtdeutschen Linken. Viel Unverständnis, Bevormundung und ein fehlendes Verständnis ostdeutscher Erfahrungen wurden da vom Westen nach Osten gerichtet. Dass sich daran bis heute nicht viel geändert hat, ist bittere Wahrheit. 2017 wurden die entstandenen Konflikte aus den 90er-Jahren beim Antifa-Ost-Kongress zusammengetragen, das Audio der Veranstaltung wird beim Ostjournal erstmals veröffentlicht. Damit knüpfen wir an die oben erwähnte Debatte an.

Wenn die Kämpfe im Osten unter den Tisch fallen, dann geht – zumindest für die Wessis – auch das widerständige Wissen darüber verloren. Zum Beispiel der Kampf um Wohnraum in der DDR. Daran hat es wegen des starken Fokus auf Großwohnsiedlungen (Stichwort: Bauen, bauen, bauen) bald gemangelt. Deswegen waren stille Besetzungen probate Mittel, um der Wohnungspolitik ein Schnippchen zu schlagen und sich selbst organisiert ein Zuhause zu beschaffen, wie Dietmar Wolf im ersten Teil seiner Reihe übers Besetzen im Osten erzählt.

Dass gerade der Osten in westdeutschen Gesamtverhältnissen untergehen kann, hat auch die Radiojournalistin Katharina Thoms erfahren. Zwar lebt sie nun in Stuttgart, doch ihr Zuhause ist Oranienburg, wie sie Nina Heinrich verriet. Thoms hat übrigens die empfehlenswerte Podcast-Reihe „Mensch Mutta“ herausgebracht, über ihre Mutter, die auch stellvertretend für viele Ostfrauen steht.

Und wenn vom Osten die Rede ist, fallen meist die Migrationsgeschichten vieler Menschen unter den Tisch. Wer kennt schon Ossi-Migranten? Um ihnen eine Stimme zu gehen, hat das Projekt „… die DDR schien mir eine Verheißung.“ eine Sammlung von biografischen Interviews zusammengestellt.

Die Regisseurin Anna Zhukovets schaut auf ukrainische Stereotype – was denkt man im Osten des Landes über die Leute im Westen und umgekehrt? Sie betrachtet den Krieg in der Ukraine als Möglichkeit, um über bestehende Vorurteile hinwegzuschauen.

Ganz nah herangegangen ist Tim Gassauer für seine Fotoserie „Heimatschutz“. Unterwegs in Eberswalde begibt er sich auf Spurensuche der rassistischen Gewalt, also an dem Ort, wo 1990 Amadeu Antonio Kiowa von Neonazis ermordet wurde. Die Bilder fangen Tristesse, Heimatduseligkeit und Banalität ein und legen damit Strukturen der Stadt frei.

Dann gebe es noch eine Frage: Was habt ihr da auf eurem Cover? Das ist eine Bürozarge aus der ehemaligen Ausländerbehörde in Leipzig. Da musste Andrzej Steinbach, der Fotograf des Bildes, mit seiner Mutter Anfang der 90er-Jahre zweimal hin, um dort ihre Aufenthaltsgenehmigungen zu bekommen. Über Umwege und einiger Hilfe konnte er eine der Zargen sichern, als die Behörde das Gebäude verließ und dies später entkernt wurde.

Und weil das Internet auch eine Art von Zuhause ist und das Ostjournal ein Onlinemagazin, kann man uns überall lesen. Also auf der ganzen Welt. Das ist auch eine Form von Zuhause. Doch das wäre dann ein anderes Thema. Erstmal gibt es genug zu entdecken in der aktuellen Ausgabe. Viel Spaß damit.

eure Ostjournal-Redaktion

 

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