© Schroeter und Berger, Ausstellungsansicht KUNST GEGEN RECHTS, Galerie Sorglos, Gera, 2021
Faschistische Hausbesetzung
Das braune Haus in der Weitlingstraße 122
Hausbesetzungen gelten üblicherweise als Formen linken Aktivismus. Doch in der Endphase der DDR wurde das Besetzen von Wohnraum zum Massenphänomen ohne Anbindung an linke Politik. Auch Neonazis nutzten die Möglichkeit, wie das Beispiel Weitlingstraße 122 im Ostberliner Stadtteil Lichtenberg zeigt. Zweiter Teil der Reihe „Haus- und Wohnungsbesetzungen in der DDR“
von Dietmar Wolf
März 2023
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Infolge der politischen Veränderungen im Herbst 1989, der unerwarteten Öffnung der DDR-Grenzen und dem schnell voranschreitenden Legitimationsverlust der SED sowie der stattlichen Institutionen entstand in den Jahren 89/90 ein Machtvakuum, das einen bislang ungeahnten Freiraum eröffnete. Neben unterschiedlichen linken, bürgerlichen, demokratischen oder prokapitalistischen Bewegungen und Parteien wurde die daraus entstehenden Möglichkeiten auch von den bis dahin klein gehaltenen neofaschistischen Grüppchen und Zellen in der DDR genutzt.
Innerhalb kürzester Zeit organisierte sich eine äußerst gewaltbereite neofaschistische Szene, die vollkommen unbehelligt von Polizei und Justiz immer mehr Zulauf bekam und alle Möglichkeiten ausnutzte, die sich ihr in der neu entstandenen Situation boten. Unterstützt wurden sie dabei von aus dem Westen heimgekehrten Neonazis, aber auch durch westdeutsche Kader und die seit Jahrzehnten in der BRD existierenden faschistischen Strukturen. Besonders deutlich wurde dies im Fall der Weitlingstraße 122.
Die NA und die Idee einer Besetzung
Am 30. Januar 1990 gründeten einige Ostberliner Neonazis um Ingo Hasselbach [1], Frank Lutz und Mike Plötzke die Partei „Nationale Alternative“ (NA). Bereits in den 1980er-Jahren gab es von dieser Gruppe Organisierungsversuche. Zunächst nannten sie sich „Lichtenberger Front“, später dann „Bewegung 30. Januar“.
Bereits im Gründungsmonat der NA gab es ein erstes Treffen mit einschlägig bekannten Neonazis aus der BRD. Unter ihnen waren die damaligen Nazigrößen Michael Kühnen und Christian Worch. Schon auf diesem Treffen wurden die Ost-Nazis auf das Ziel eingeschworen: die Wiederzulassung der NSDAP als in Deutschland wählbare Partei.
Nach Aussagen von Ingo Hasselbach war es Christian Worch, der die Ostberliner dazu ermunterte, ein Haus zu besetzen. Am 18. Februar 1990 zogen die Nazis in die Lückstraße 24 ein, direkt um die Ecke der Weitlingstraße in Lichtenberg.
Darüber schreibt Haselbach 1993 in seinem Buch „Die Abrechnung“:
„Wir zogen illegal für kurze Zeit in Lichtenberg in ein Haus ein, das wir allerdings gleich wieder räumen mussten. Es handelte sich um ein historisches Gebäude, das unter Denkmalschutz stand. Die Wohnungsgesellschaft schlug uns aber bereitwillig zwölf andere Objekte zum Tausch vor, von denen wir uns eins auswählen konnten. Ich entschied mich für die Weitlingstraße 122. Das Gebäude war für unsere Zwecke groß genug, es war in gutem, bewohnbarem Zustand, seine Bausubstanz war hervorragend, und vor allem: Es lag an strategisch ausgezeichneter Stelle und ließ sich gut verteidigen. Das Haus wurde sofort zur zentralen Anlaufstelle für alle Skinheads aus ganz Berlin. Es war bald in ganz Deutschland medienbekannt, und wir bekamen Zulauf aus der gesamten Bundesrepublik.“ [2]
Am 5. März 1990 erhielten die Nazis der NA ein legales Mietverhältnis für die Weitlingstraße 122. Zur gleichen Zeit wurden die leer stehenden Häuser in der Weitlingstraße 115 und 117 sowie erneut die Lückstraße 24 zeitweise von Nazi-Kids aus dem Umfeld der Lichtenberger NA besetzt und regelmäßig besucht.
Dass gerade die Lichtenberger Häuser besetzt wurden, hatte historische Gründe, denn bereits 1986 zogen dort Nazis ein. Damals waren die Wohnungen vorrangig an ehemalige Strafgefangene zugeteilt worden, standen aber oft leer, weil die Bewohner:innen erneut ins Gefängnis mussten oder verschwanden. In die leeren Wohnungen zogen Nazis ein. Sie hielten die anderen Hausbewohner:innen gewaltsam unter Kontrolle, sodass sie sich nicht trauten, Anzeige zu erstatten. Erst durch die Anzeigen und Beschwerden von Anwohner:innen anderer Häuser sah sich die Staatssicherheit genötigt, die Wohnungen zu räumen und die rechten Besetzer:innen kurzzeitig festzunehmen.
Der Einfluss der Nazikader aus dem Westen war von Anfang an groß. Sie versuchten, die rechten Besetzer:innen in Lichtenberg zu beeinflussen und zu lenken. Außerdem wohnten dort immer wieder einschlägige und einflussreiche Nazis. Neben einem kurzen Intermezzo von Christian Worch waren es hauptsächlich die österreichischen Neonazis Günther Reinthaller und Gottfried Küssel, später zog auf ausdrücklichen Wunsch von Kühnen der Westberliner FAP-Kader Oliver Schweigert in die Weitlingstraße ein, indes „ohne sich mit uns abzusprechen“, wie Hasselbach in seinem Buch schreibt.
Andere Bewohner waren der Naziterrorist und Bombenbauer Ekkehard Weil sowie der US-Nazi Gerry Lauck, zudem gab es gelegentliche Besuche von Michael Kühnen. Schnell kam es im Haus zu Spannungen zwischen Ost- und Westnazis. Während sich die Kader der „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“ (GdNF) um Kühnen und Worch strikt der Ideologie und den politischen Zielen der NSDAP und Adolf Hitler verschrieben hatten, gab es unter den Ostnazis starke Sympathien für die national-revolutionären Ideen der Strasser-Brüder.
Mediales Interesse und ein Polizeispektakel
Die Besetzung der Neonazis führte zu einem ungeahnten medialen Interesse, wie Hasselbach in seinem Aussteigerbuch schreibt:
„Journalisten aus aller Welt wollten plötzlich Berichte über das Haus in der Weitlingstraße machen, und ich gab Tag für Tag bis zu vier Interviews. Diese Interviews wurden immer honoriert. Die Tarife für solche Interviews lagen zwischen zweihundert und eintausend D-Mark. Eine bestimmte Menge des eingenommenen Geldes floss in die Parteikasse der ‚Nationalen Alternative‘, wie viel, lag in meinem Ermessen. Zu jener Zeit hatte ich soviel Geld wie nie zuvor in meinem Leben, konnte mir kaufen, was ich wollte, und musste natürlich nicht mehr arbeiten gehen.“
Mit der legalen Übernahme durch die NA wurde das Haus in der Weitlingstraße 122 zu einem der wichtigsten Zentren für deutsche und ausländische Nazis, aber auch zum Ausgangspunkt für Gewalt und Terror. Regelmäßige gingen vor dort Angriffe auf Migrant:innen, politische Gegner:innen, besetzte Häuser sowie linke und alternative Kneipen aus – nicht nur in Lichtenberg, sondern auch in anderen Berliner Bezirken.
Dabei agierten die Nazis ohne Angst vor staatlicher Repression, wie Hasselbach berichtete:
„Wir bemerkten natürlich schnell, dass die DDR-Polizisten sich vollkommen zurückhielten und die aus dem Westen noch keine Befugnisse hatten, in Ostberlin einzugreifen. Wir konnten endlich einmal zuschlagen, ohne dafür in irgendeiner Weise belangt zu werden. In diesem Jahr 1990 herrschte das totale Chaos.“
In Ostberlin regierte seit der letzten Volkskammerwahl im März 1990 die von der CDU geführte „Allianz für Deutschland“. Dem DSU-Politiker Peter-Michael Diestel unterstand das Innenministerium, zu dem das neu gebildete „Zentrale Kriminalamt der DDR“ gehörte. Dort leitete der altgediente Ostkriminalist Bernd Wagner die Abteilung Extremismus/Terrorismus, die sich mit den zunehmend bedrohlicher werdenden Neonazis beschäftigte. Mit spektakulären Aktionen versuchte die Behörde, die Szene einzuschüchtern, an Informationen zu gelangen und der Öffentlichkeit zu signalisieren, handlungsfähig zu sein.
Um Erfolge zu präsentieren, stürmten am 27. April 1990 – spektakulär und medial inszeniert – Sondereinheiten der Volkspolizei das Haus in der Weitlingstraße und durchsuchten es. Es wurden Waffen und Propagandamaterial beschlagnahmt. Der gesamte NA-Vorstand wurde kurzzeitig festgenommen. Grundlage der Polizeiaktion war ein Ermittlungsverfahren. Das war pikanterweise zur gleichen Zeit gegen die NA eingeleitet wurde, als die Wohnungsverwaltung den Neonazis das Haus übergeben hatte.
Antifaschistischer Widerstand
Als Reaktion auf die Bedrohungen und die fortwährende Gewalt, die von den Neonazis im Haus in der Weitlingstraße ausging, formierte sich Widerstand von Antifa-Aktivist:innen und Hausbesetzer:innen. Sie setzten einerseits auf Aufklärungs- und Politaktionen im Weitlingkiez, andererseits kam es auch zu Auseinandersetzungen. Das war eine völlig neue Situation für die Lichtenberger Neonazis.Die Gewalt, die die Faschisten vermeintlich unbehelligt in andere Kieze getragen hatten, kam nun zu ihnen zurück, wie sich Hasselbach erinnerte:
„In der Folge lenkten zahlreiche antifaschistische Gruppierungen ihre Aktivitäten gegen unser Haus. Immer häufiger wurden wir von Autonomen angegriffen, und die Gegend um die Weitlingstraße wurde für uns immer unsicherer. Mehrmals ließen die Autonomen alle unsere Autos in die Luft fliegen, und andauernd kam es vor unserem Haus zu regelrechten Straßenschlachten. […] Die Polizei zog es noch immer vor, nicht einzugreifen.“
Infolge der Zustände und der alltäglichen Bedrohungen, die von den Neonazis ausging, bildetet sich ein breites Berliner Bündnis. Dieses organisierte am 24. Juni 1990 eine Demonstration durch Lichtenberg. Rund 6000 Menschen zogen durch den Bezirk, ihr Ziel war die Weitlingstraße 122.
Dabei versuchte die Demonstration, auf die Bedrohung und die Gewalt aufmerksam zu machen, die von den Nazis ausging. In unmittelbarer Nähe zum Haus lieferten sich Teilnehmer:innen der Demonstration ein Scharmützel mit den Einsatzkräften. Etwa 500 Menschen versuchten, eine Polizeisperre zu durchbrechen. Dabei ahnten sie nicht, dass auf den Hausdächern mehrere hundert bewaffnete Nazis lauerten.
Auch wenn die Demonstration bis zu ihrem Schlusspunkt laufen konnte, ließ die Auseinandersetzung mit der Polizei das Anliegen der Demonstration in den Hintergrund treten und schwächte deren öffentliches Ansehen. Im Nachgang überbot sich die Presse mit reißerischen Schlagzeilen: „Die blutige Schlacht der West-Chaoten“ hieß es in Bild; „400 Radikale inszenierten blutigen Krawall“ titelte das Neue Deutschland; „Extremistische Krawalle nach antifaschistischer Demonstration“ ließ die Berliner Zeitung ihrer Leser:innen wissen; die junge Welt schrieb: „Am Ende siegte nur der Hass“.
Es war der Höhepunkt einer Pressekampagne, die bereits im Vorfeld versuchte, die Demo zu diskreditieren. Auch seitens der zuständigen Behörden wurde alles unternommen, um die Demonstration zu behindern. So wollte der Bezirksbürgermeister die Route möglichst weit weg von dem Nazi-Haus verlegen.
Das Ende des Nazi-Zentrums
Bereits Mitte der 1990er-Jahre war der innere Zerfallsprozess in der Weitlingstraße 122 sowie innerhalb der NA in vollem Gange. Zum Bruch mit der von Michael Kühnen angeführten GdNF war es schon 1990 gekommen. Anlass war zum einen eine Diskussion über die Homosexualität Kühnens und zum anderen das von Kühnen durchgesetzte „Aktivitätsbeschränkungsgebot“ für die „Nationale Alternative“ in Berlin. Hinzu kamen die bereits erwähnten, von Anfang an bestehenden und nicht ausräumbaren ideologischen Differenzen.
Ein Teil der NA-Mitglieder wechselte zur „Deutschen Alternative“ (DA). Aus der „Nationalen Alternative“ ging der „Freundeskreis Revolutionärer Volkssozialisten“ und die „Kameradschaft Sozialrevolutionärer Nationalisten“ hervor. Formell wurde die NA nie aufgelöst. Das Haus Weitlingstraße 122 wurde im Laufe der 1990er-Jahre von den Neonazis selbst aufgegeben. Nach der freiwilligen Selbsträumung wurde das Haus durch Brandstiftung unbewohnbar gemacht.
Doch auch in den darauffolgenden Jahren blieb der Weitlingkiez in den Schlagzeilen. Immer wieder kam es dort zu Angriffen von Neonazis. Besonders in den Jahren zwischen 2002 und 2008 waren dort Neonazi-Gruppen aktiv, darunter die NPD und die „Kameradschaft Tor“. Letztere war Teil eines größeren Netzwerks von rechtsextremen Gruppen und Organisationen in Deutschland und hatte Kontakte zu anderen Neonazi-Gruppierungen in Europa. Die Gruppe beteiligte sich auch an Demonstrationen und Veranstaltungen, bei denen rassistische und antisemitische Parolen skandiert wurden. Es gab Angriffe auf Migranten und Andersdenkende, Propagandaaktionen wie rassistischen Plakaten, das Sprühen von neonazistischen Graffiti und Neonazi-Konzerte.
Besondere Aufmerksamkeit erregten zwei Überfälle auf PDS-Politiker: Giyasettin Sayan wurde am 18. Mai 2006 und Kirill Jermak am 26. November 2006 attackiert. Ab 2007 bemühte sich die Bundes- und Lokalpolitik, die Lichtenberger Neonazi-Problematik mit Fördermittelprogrammen einzudämmen. Allein in den Jahren 2007 bis 2010 wurden jährlich 100.000 Euro zur Finanzierung eines „Aktionsplan gegen Gewalt und Rechtsextremismus im Weitlingkiez“ bereitgestellt. Die „Kameradschaft Tor“ wurde in den Jahren 2006 bis 2008 durch polizeiliche und juristische Maßnahmen stark geschwächt und schließlich aufgelöst. Deren Mitglieder wurden wegen verschiedener Straftaten verurteilt und der Verfassungsschutz listete die Gruppe als rechtsextreme Organisation.
Abseits staatlicher Maßnahmen gab es in den Jahren nach der Jahrtausendwende verstärkte antifaschistische Gegenwehr im Weitlingkiez, insbesondere durch Demonstrationen und andere Aktionen. So fand 2018 die Demonstration „Kein Raum für Nazis im Weitlingkiez“ statt, bei der mehrere hundert Menschen gegen die Präsenz von Rechtsextremen im Kiez demonstrierten. Auch lokale Initiativen und Vereine setzen sich für die Stärkung der lokalen Gemeinschaft und die Förderung von Solidarität und Toleranz ein, um Neonazismus und Rassismus im Weitlingkiez zu bekämpfen.
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[1] Ingo Hasselbach war ein ostdeutscher Neonazi, erster Vorsitzender der „Nationalen Alternative“ (NA), später auch Führungskader der „Deutschen Alternative“ und der „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“. Ab Mitte der 1990er-Jahre einer der bekanntesten Aussteiger:innen der Neonaziszene.
[2] Ingo Hasselbach und Winfried Bonengel: „Die Abrechnung. Ein Neonazi steigt aus“, Aufbau Verlag, Berlin 1993
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Dietmar Wolf, geb. 1964, lebt in Ostberlin.
Er war seit 1987 Mitarbeiter in der DDR-Opposition, 1989 Mitbegründer der wichtigsten DDR Oppositionszeitschrift telegraph, Mitbegründer der ersten Ostberliner Antifa, in den 1990er Jahren Hausbesetzer und aktiv in antifaschistischen Gruppen. Er ist Mitarbeiter und Autor für diverse Bücher, Zeitschriften und Publikationen.