„Waiting for the big change“, © 2022 Jördis Hirsch

Der Die Das ANDERE

Warum der Osten?

Stell dir vor:
Das Land, in dem du lebst, taumelt nach einer jahrelangen schweren Wirtschaftskrise in den Untergang. Die Regierung wechselt im Monatsrhythmus. Praktisch alle Betriebe deines Landes sind pleite; Millionen von Menschen von Entlassung bedroht.

von Jan Peter
Mai:Juni 2022

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PERSPEKTIVE OST

Stell dir vor:
Das Land, in dem du lebst, taumelt nach einer jahrelangen schweren Wirtschaftskrise in den Untergang. Die Regierung wechselt im Monatsrhythmus. Praktisch alle Betriebe deines Landes sind pleite; Millionen von Menschen von Entlassung bedroht.

Wohin du auch blickst – überall siehst du eine sterbende Natur. Die Flüsse sind schwarze Kloaken, die Wälder verdorrt.

Auf den Straßen herrscht Chaos. Gewalt gegen nicht-weiße Menschen wird zum alltäglichen Bild – und die Polizei lässt sich kaum noch blicken. Wenn du jung bist, gehört ein Baseballschläger zu den Dingen, ohne die du dich kaum aus dem Haus wagst.

Alles ist unsicher.
Deine Eltern, deine Lehrer; sie scheinen vor Angst wie gelähmt.
Die Zukunft ist ungewiss, selbst der nächste Tag lässt sich kaum vernünftig planen.

Und genau dieses Gefühl liebst du.

Denn in dem Schmerz, dem Chaos, der Unsicherheit spürst du etwas, was du bisher in diesem Land nicht kanntest: Das Versprechen, das alles ganz ANDERS sein könnte, alles neu beginnen kann.
Und alles, wirklich alles möglich ist.

 

ANDERS MACHEN

Mit diesem Gefühl bin ich ins Jahr 1990 gegangen. Als 21jähriger Hilfspfleger im Leipziger Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und zugleich als einer der drei Mitbegründer der Leipziger Anderen Zeitung.

Anfang des Jahres 1990 ging es offenbar vielen Menschen ähnlich. Ob in Salzwedel oder Rostock, in Altenburg oder Suhl – quer durch Land erscheinen in diesen Wochen zum ersten Mal soeben neu gegründete Zeitungen. Die Macher:innen kennen einander meist nicht (das World Wide Web ist noch nicht erfunden und „Vernetzung“ in der DDR wegen der allgegenwärtigen Herren der Staatssicherheit nicht immer ratsam), ihre neuen Projekte aber haben alle zwei Dinge gemeinsam. Da ist zum einen die schäbige Qualität des Druckpapiers. Zum zweiten aber teilen nahezu alle diese unabhängig voneinander entstandenen Projekte ein und denselben Namen: Sie nennen sich ANDERE Zeitung.

Niemand hatte diese Namensgleichheit der voneinander unabhängigen Blätter koordiniert. Wir wussten noch nicht einmal voneinander. Aber diese auffällige Verwandtschaft im Geiste war kein Zufall: Uns einte der Wunsch, ANDERE Zeitungen zu machen für ein Land, in dem vieles ANDERS werden musste. Die Gesamtauflage der fünf „Anderen“ betrug 400.000 Exemplare.

Die beiden ambitioniertesten Gründungen in Leipzig und Berlin heißen Die Leipziger Andere Zeitung (kurz DAZ) und Die Andere. Aber es sind mehr als fünfzig weitere ANDERE Blätter, die in jenen Tagen entstehen – zeitgleich mit kleinen Verlagen, Underground-Kinos und Theatern, meist illegalen Bars und Clubs, in denen die „anderen“ Bands spielen, die sich bewusst von der offiziellen Unterhaltungsmusik abgrenzen.

ANDERS sein, dass war das Credo, auf das sich diejenigen einigen konnten, die eben ganz bewusst in der DDR geblieben, nicht in den Westen ausgereist waren. ANDERS als der graue, autoritäre (und vor allem am Ende maßlos dumme) Staatssozialismus der DDR, aber eben auch ANDERS als der sich gerade zum bunten, hyper-arroganten Turbokapitalismus aufschwingende Westen.

Ein „dritter Weg“ war der Traum vieler Gründer*innen – ein Weg jenseits von Sozialismus und Kapitalismus. Einen solchen Traum zu träumen, das hatte seit hundert Jahren niemand mehr gewagt – nämlich eine ANDERE, eine menschlichere, bessere Art von Gesellschaft zu erschaffen.

 

SCHOCK

Was ist aus unseren Träumen von 1990 von einer besseren Welt und einem dritten Weg geworden?

Der Idee eines „Sozialismus“ in egal welcher Form hat die Mehrheit der ostdeutschen Wähler:innen in den ersten und zugleich letzten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 eine klare Absage erteilt. Der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl verhalf seinen blassen ostdeutschen Verbündeten mit dem Versprechen von „blühenden Landschaften“ zu einem grandiosen Sieg. Die in zahllose Grüppchen zersplitterten ehemaligen DDR-Oppositionellen erreichten keine 3 Prozent der abgegeben Stimmen. Ihr Scheitern nahm das Scheitern der ANDEREN ostdeutschen Projekte gleichsam vorweg.

Doch heute, mehr dreißig Jahre nach seinem größten Triumph, stellen wir fest, dass auch der Kapitalismus mit seiner Wachstumsfixierung in einer welt- und menschheitsbedrohenden Krise steckt. Der scheinbar unaufhaltsame Siegeszug von Autokraten und Verschwörungstheoretikern; ein immer stärker werdender Nationalismus; ein aus den Fugen geratener liberaler Markt, Krieg und Gewalt sind alles Symptome einer falsch gedachten und falsch gemachten Welt.

Die Zerstörung der Umwelt, das Auseinanderdriften von Arm und Reich, die wachsende Aggression und die globale Kriegsgefahr sind unübersehbare Fehlentwicklungen, die Angst machen und polarisieren. Das Demokratiemodell, für das wir gekämpft haben, droht von innen heraus zu scheitern. Es scheint in einer globalisierten Welt nicht stark genug zu sein, um sich durchzusetzen zu können. Geld ist nichts mehr wert, wenn der Planet zerstört ist. Wachstum gibt es nicht im nächsten Weltkrieg.

Ein neues, uns miteinander positiv verbindendes Narrativ ist bisher nicht erkennbar.

 

VERLIEREN LERNEN

Wir lebten unseren Traum gleichsam mit dem Rücken zum anderen, größeren und so viel potenteren Teil Deutschlands. Während wir in Harvard mit dem New-York-Times Besitzer Sulzberger diskutierten (kein westdeutscher Verleger hat sich je für uns interessiert – und umgekehrt), in Paris mit unseren Schicksalsgenossen aus Prag, Budapest, Warschau und Bukarest vor der UNICEF Vollversammlung auftraten und in London Verhandlungen mit dubiosen Investoren führte, kauften uns die westdeutschen Verlage die Lebensgrundlage buchstäblich unter dem Arsch weg.

Während wir Essays übers ANDERSSEIN in Georgien oder Indonesien druckten, teilten die westdeutschen Großverlage den Osten untereinander auf. Nachdem der Vertrieb ebenso wie die bis eben noch von der Staatspartei SED geführten SED-Bezirkszeitungen in ihren Händen waren, monopolisierten sie kurzerhand auch noch den Pressevertrieb. Für uns, die ANDEREN, war es quasi über Nacht teurer, unsere Zeitungen am Kiosk verkaufen zu lassen, als wir durch den Preis überhaupt einnehmen konnten.

Am längsten hielten die beiden Gründungen in Leipzig (bis April 1991) und (nochmal ein Jahr länger) in Berlin durch. Zeitungen, so mussten wir lernen, sind nicht hauptsächlich dafür da, um die Welt zu ergründen. Sie müssen Anzeigen verkaufen, sonst sterben sie.

Eine Wahrheit, die heute selbst die New York Times auf schmerzhafte Art erfahren muss.

1991, spätestens 1992, aber waren wir die Verlierer. Anfang zwanzig pleite, im schlimmsten Fall noch mit Schulden im Gepäck, von denen wir uns nicht mal vorstellen konnten, wie sie jemals zurückzuzahlen sein sollten.

„Wir haben alles gegeben und doch verloren“, sagt einer der Chefredakteure nach dem Aus für sein Blatt.

Von all den Neugründungen des Jahres 1990 im Zeitungsbereich hat keine ANDERE überlebt.

Die Schulden sind heute längst bezahlt. Aber Schmerz und Niederlage haben sich im Verlauf von dreißig Jahren nicht in eine verkappte Erfolgsgeschichte verwandelt. Uns gehören nicht (wie den 68ern im alten Westen) heute die Dachgeschosswohnungen und Penthäuser in den besseren Wohnlagen unserer Heimatstädte. Uns gehört ohnehin nicht viel im Osten. Viele leben weiterhin prekär, von der Hand in den Mund.

Aber immer, wenn der nächste (beinahe) Weltuntergang ausgerufen wird, wenn alles (in immer schnellerer Folge) zusammenzubrechen droht; wenn in New York die Twin Towers fallen oder Lehman Brothers Konkurs anmeldet; wenn wahlweise der Euro oder das Weltfinanzsystem vor dem Kollaps stehen und ein Virus alle Gewissheiten beiseite fegt – immer dann atmen wir etwas ruhiger als viele unserer westdeutschen Kolleg:innen, Nachbar:innen, Partner:innen.

Wir haben das Verlieren schon hinter uns.

Und es stellt sich mehr und mehr heraus: Verlieren zu können muss erlernt werden. Möglicherweise ist Verlieren können und Verlieren müssen ja genau das, was uns allen bevorsteht und was wir, die ANDEREN, die OSTDEUTSCHEN in eine gleichberechtigte Beziehung der beiden kulturellen Traditionen des heutigen Deutschlands einbringen können.

Vielleicht müssen wir ENDLICH verlieren, um überhaupt überleben zu können?

 

FRAGEN

Es ist zu kurz gedacht, die AfD schlecht zu finden und Fridays for Future zu mögen. Es reicht nicht, die Wirtschaft mit Milliarden vermeintlich ökologischer zu machen.

Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit, die zehn Gebote der Christenheit oder die Achtsamkeit mit sich selbst und anderen existieren und werden oft genug im persönlichen Umfeld durchaus praktiziert. Im Großen aber, im Handeln der Politik zwischen Staaten, in der Gewinnmaximierung von Unternehmen, im Macht- und Vorteilstreben Einzelner spielen sie keine Rolle. Diese Diskrepanz spüren die Menschen und sind zu Recht frustriert, ängstlich oder empört, sie spüren instinktiv, dass das große Ganze schlicht und einfach schiefgeht.

Wenn wir aber erkennen, dass es nicht der Zweck des Lebens sein kann, nach Macht und Geld zu streben, was ist dann das positive Ziel der Menschheit?

Die Balance zwischen Egoismus und Gemeinwohl scheint zuerst im Osten und nun zunehmend in ganz Deutschland, überall im Westen verloren gegangen zu sein. Was muss geschehen, um sie wieder herzustellen?

Wie kann die Motivation zum Fortschritt und der Gedanke der Aufklärung aufrechterhalten werden ohne weiter zu polarisieren, die Umwelt zu zerstören, Menschen gegeneinander aufzubringen?

Was muss die einende Erzählung einer für Mensch und Natur guten Gesellschaft sein und wie lässt sich diese global vermitteln?

 

Kurz und gut:

 

Wie lässt sich eine ANDERE Gesellschaft schaffen?

 

Es ist ermutigend, dass sich längst schon eine neue Generation diese Fragen mit großer Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit stellt. Wir haben miteinander gemeinsam, dass wir aus genau diesen Orten kommen, in denen Demokraten heute zur Minderheit zu werden drohen und wo sich in einer in den Großstädten kaum vorstellbare Weise erzwungene Transformation, tiefe Resignation und Barbarei miteinander verbinden.

Wir sind aufgewachsen in Chemnitz und Weida, in Merseburg und Kohren-Sahlis; wir besuchen unsere Eltern in Grabow und Zella-Mehlis; wir sind geflohen aus Schwedt, Parchim und Salzwedel. Wenn wir dorthin zurückkehren, um zu berichten, dann sind wir keine Fremden. Unsere Urteile sind vielleicht weniger voreilig, unser Blick hoffentlich genauer, unsere Gesprächspartner:innen möglicherweise nicht ganz so misstrauisch, wie es sonst Reporter:innen aus dem (verhassten) Westen gegenüber wären.

 

Darum also der Osten.

 
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Jan Peter (*1968 in Merseburg), Sänger in diversen Bands, Mitglied in verschiedenen Oppositionsgruppen und Verfasser von Flugblättern für das Neue Forum, Mitgründer und Chefredakteur der DAZ, danach Chefreporter bei DIE ANDERE in Berlin, nach deren Pleite Mitgründer der Fernsehproduktionsfirma L.E. Vision, später der Fortis Imaginatio, hat sich einen Namen als Autor, Regisseur und Showrunner historischer Filme und Serien gemacht und wurde für seine Arbeit vielfach ausgezeichnet, lebt in Leipzig und Berlin.
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