
© Hannah Uhlmann
Aufrüstung
Unentschlossen
von Wolfgang Rüddenklau
Juli 2025
Probleme der europäischen Aufrüstung im Zuge des Ukraine-Krieges
Wenige Wochen vor der Bundestagswahl 2025 veröffentlichten elf Personen mit DDR-Biografie eine öffentliche Erklärung zur uneingeschränkten militärischen Unterstützung der Ukraine. Sie fordern unter anderem die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern, modernen Luftabwehrsystemen sowie eine substanzielle Aufstockung des Bundeswehr-Etats – noch unter dem amtierenden Bundestag. Begrüßt wird die Bildung einer „Koalition der Willigen“ unter Einschluss Deutschlands, die internationale Gremien notfalls umgehen soll. Als Legitimation für diese Forderungen dient ein historischer Kunstgriff: Die DDR wird als durchgängig sowjetisch besetzter Staat beschrieben, Russland unter Putin als ideologische Fortsetzung eines „kommunistischen“ Unterdrückungssystems. Zu den Unterzeichnern gehören einige Personen aus der DDR-Opposition von 1989, darunter Heidi Bohley, Martin Böttger, Almut Ilsen, Ekkehard Maaß und Mario Schatta – viele von ihnen einst engagiert in basisdemokratischen und pazifistischen Initiativen der Friedensbewegung, der Umweltbibliothek oder kirchlichen Gruppen.
Ihr damaliges Engagement zielte auf eine von einem antimilitaristischen Selbstverständnis geprägte DDR ab, symbolisiert durch die Losung „Schwerter zu Pflugscharen“. Im Laufe der Jahrzehnte nach der Wende und der sogenannten Wiedervereinigung vollzog sich jedoch bei Teilen dieser Generation ein politischer Wandel hin zu einem entschiedenen Antikommunismus und einer zunehmend konservativen Interpretation von Geschichte und Gegenwart. Ein besonders markantes Beispiel für diese Entwicklung ist Gerold Hildebrand. Einst engagiert in der Ostberliner Wehrdienstverweigererszene und der Umweltbibliothek, war er später als leitender Historiker an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen tätig. Dort entwickelte er ein Präventionsprojekt gegen Linksextremismus, das aufgrund seiner einseitigen Ausrichtung und mangelnden Differenzierung kritisiert werden musste. Zudem veröffentlichte Hildebrand Beiträge auf der rechtskonservativen Plattform „Achse des Guten“, die für ihre neokonservativen und islamfeindlichen Positionen bekannt ist. Auffällig ist dabei nicht nur die ideologische Verschiebung, sondern auch die historisch fragwürdige Gleichsetzung von Sowjetunion und Kommunismus sowie von Putin und stalinistischer Herrschaft. Die tatsächliche Entwicklung – vom frühen revolutionären Sozialismus zur autoritären Diktatur Stalins und schließlich zum staatskapitalistischen Zerfallsprodukt in der Jelzin-Zeit – wird dabei ebenso ausgeblendet wie die heutige realpolitische Struktur Russlands. Putins jetziges Regime ist keine Fortsetzung eines staatssozialistischen Projekts, sondern eine imperiale Autokratie mit starken Bezügen zur Zarenzeit und einer eng mit der orthodoxen Kirche verwobenen Herrschaftsform.
Vor diesem Hintergrund ist Wolfgang Rüddenklaues Text nicht nur eine Replik, sondern auch ein Plädoyer für politische Klarheit: gegen Geschichtsverklitterungen, gegen ideologisch begründete Militarisierung – und für eine differenzierte, friedenspolitisch verantwortliche Position in Zeiten des Krieges.
Dietmar Wolf
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Noch vor den Wahlen erschien eine Erklärung, die mich sehr verärgert hat. Unterzeichner waren durchaus gestandene DDR-Oppositionelle. Sie erklärten damit ihre Zustimmung und Solidarität mit der sogenannten „Koalition der Willigen“ zur Unterstützung der Ukraine von einigen europäischen Militärs in London. Andere hielten sich zurück, die USA ganz. Neben durchaus nicht zu leugnenden Tatsachen forderten die elf Unterzeichner, dass noch der alte Bundestag die Erklärung der “Willigen” bestätigt und darüber hinaus die „zeitnahe Lieferung der Taurus-Raketen“ und weiterer militärischer Güter beschließt. Das war natürlich ein Schnellschuss, gegründet auf eine gleichartige Solidarnosc-Erklärung, die mich im Ton sehr an damalige anbiedernde Erklärungen für die SED-Politik erinnerte. Man ist endlich, endlich in den Reihen der Orthodoxie angekommen – und zwar entschieden. Dabei ist die Angelegenheit komplizierter, und ich bin als ehemaliger DDR-Oppositioneller durchaus entschieden unentschieden:
Zugegeben, ich träume nach wie vor von der pazifistischen Utopie, mit der wir seinerzeit in der DDR sowohl gegen die sowjetischen SS-20 als auch gegen die US-Pershing-2 demonstrierten. Aber auch damals galt wohl der alte römische Satz, dass „vis vim vi frangit“ – Gewalt bricht Gewalt durch Gewalt. Auch da siegte Arminius gegen die römische Kampfmaschine nur, indem er eine völlig unerkannte Kriegskunst neu erfand: den Guerillakrieg.
Von daher habe ich vor Jahren sehr gespannt an der Friedensdemonstration von Wagenknecht und Alice Schwarzer am Brandenburger Tor teilgenommen. Wagenknecht redete nur von Diplomatie und Friedensverhandlungen. Aber mit wem? Dann sah ich gespannt den womöglich andersartigen Antworten von Schwarzer entgegen. Aber die greise Vorzeige-Feministin sagte kaum einen halben Satz und rief stattdessen stundenlange Beifallchöre ihrer Bewunderer hervor. Ich verließ die Friedensdemonstration wieder – unbefriedigt nach wie vor. Inzwischen zeigt die Teilnahme von zwei Mitgliedern des BSW an der Militärdemonstration auf dem Roten Platz, wohin deren Weg führt.
Ich entwickelte zunehmend Sympathie für das Programm der Linken, obwohl deren SED-Vergangenheit für mich wie eine Stahlkugel an der Kette nachhängt. Zumindest stellen sie die richtigen Fragen und übersehen auch nicht den Elefanten im Raum der übrigen Diskutanten – den Kapitalismus. Aber ich werde mich wohl zurückhalten müssen. Kürzlich fand ich ein Zitat von Barack Obama aus dem Jahre 2016:
„Die Welt ist auf ein demokratisches Europa angewiesen, das die Prinzipien von Pluralismus, Vielfalt und Freiheit aufrechterhält – jene Prinzipien, die unser gemeinsames Glaubensbekenntnis sind. Als freie Völker dürfen wir nicht zulassen, dass die von mir beschriebenen Kräfte – Ängste um Sicherheit oder wirtschaftliche Sorgen – unser Bekenntnis zu den universellen Werten untergraben, aus denen unsere Stärke erwächst.“
Immerhin: Die regelbasierte Ordnung des Liberalismus zusammen mit den neueren Verbesserungen für Frauen und queere Menschen werde ich wohl vertreten und verteidigen müssen. Aber im Zeitalter von Trump und Putin scheint das Ende dieser regelbasierten Weltordnung zugunsten einer Politik aus dem Zeitalter des Absolutismus, das Ende der nordamerikanischen Demokratie – so wenig ausreichend sie war – gekommen.
Da macht auch die neue Koalitionsregierung in Deutschland wenig Hoffnungen. Unter den neu gekürten Ministern von CDU/CSU sind mit den Wirtschafts- und Kulturministerinnen Persönlichkeiten zutage getreten, deren queerfeindliche Positionen sogar rechts von der AfD liegen. Natürlich ist Queerfeindlichkeit nur ein Indiz, aber es wirkt doch auf das gesamte Denken ein. Was werden diese Reaktionärinnen mit Wirtschaft und Kultur anstellen? Wir stecken in einer Zwangssituation zwischen AfD und wenig überzeugender Restborke fest, ganz zu schweigen von dem AfD-Nazi-Unwort der „Remigration“. In der DDR verstand der Volkswitz den Sinn der Abkürzung des Staates als „Der Dumme Rest“. Das muss wohl prophetisch gemeint gewesen sein. Immerhin hat der neue Bundeskanzler Richtlinienkompetenz. Fragt sich nur, wes Geistes Kind Herr Merz ist. Glücklicherweise wissen wir dank zahlreicher Publikationen und Aussagen mehr davon. Während Willy Brandt seine Kanzlerschaft mit dem Schlagwort „Mehr Demokratie wagen“ eröffnete, begann Angela Merkel mit den durchaus sehr zweischneidigen Worten „Mehr Freiheit wagen“. Merz dagegen kennzeichnete seinen Weg eindeutig mit dem Buch „Mehr Kapitalismus wagen“, den er als Weg zu Demokratie und Gerechtigkeit verstehen will. Aber offenbar sieht er mit den Neoliberalen das Ziel von Unternehmen in der Wohlfahrt der Aktionäre, nicht in der Förderung des Wohlergehens der Arbeiter. Mit dem Begriff der „deutschen Leitkultur“ polemisierte er gegen Ausländer, Asylanten und Arbeitslose, denen er Schmarotzertum und Feindschaft gegen seine Leitkultur vorwarf.
Und was ist mit der SPD? Die kann sich höchstens damit brüsten, im Koalitionsvertrag und darüber hinaus das Schlimmste verhindert zu haben. Tragisch! Für die traditionsreiche SPD wird diese Koalition keine Frischzellenkur sein – es sei denn durch ein Wunder. Das wird wohl ihr Ende werden.
Die Ukraine? Man wird ihr helfen müssen – aber wie? Was wird das mit unserem Gesellschaftssystem in Deutschland machen? Ich fürchte, dass die Demokratie rasch den Kampf gegen den „militärisch-industriellen Komplex“ verlieren wird. Wenn es denn schon eine expansive Nachrüstung sein muss: Ist es denn nötig, mit irren Summen privatwirtschaftliche Firmen wie Rheinmetall zu mästen?
Der US-Präsident Eisenhower, der als Fünf-Sterne-General das System von innen kannte, warnte am Ende seiner zweiten Amtszeit am 17. Januar 1961 vor dem militärisch-industriellen Komplex, nämlich, dass das wachsende volkswirtschaftliche Gewicht von Rüstungsindustrie und Militär geistig, finanziell und politisch unangemessenen Einfluss auf den demokratischen Prozess gewinnt und negativen Einfluss auf die Freiheiten und Rechte der Bürger ausübt. Siehe den unheilvollen Einfluss der US-Waffenindustrie auf die Militarisierung des Landes, ja sogar von Kindern. Auch Helmut Schmidt wiederholte diese Warnung für die Bundesrepublik Deutschland. Er erkannte die Bedeutung des MIK, insbesondere im Kontext der sowjetischen Aufrüstung und der Notwendigkeit des militärischen Gleichgewichts in Europa.
Nämlich auch, dass der militärisch-industrielle Komplex in dem Maße, in dem er manifest wird, das gesellschaftliche Leben und den demokratischen Prozess bestimmt und nur schwer zurückzudrängen sein wird.
Als Mittel dagegen wird die Verteilung der Aufträge europaweit genannt, was ohnehin durch die gesetzliche Pflicht zur Ausschreibung der Aufträge garantiert würde. In der Vergangenheit hat das nur selten zu einem Übergewicht der Rüstungsfirmen und ihren Intrigen geführt (Starfighter-Affäre). Leider wird das heute durch die quasi Monopolstellung namentlich der Firma Rheinmetall und anderer deutscher Rüstungsfirmen konterkariert, die durch Entwicklung von „fortschrittlicher“ Waffentechnik (Leopard 2 und anderer Schießvorrichtungen und Bombenabwerfer) eine Alleinstellung erreicht haben.
Eine neuere Entwicklung mildert die Situation scheinbar, nämlich die Idee, in der Ukraine selbst Produktionslinien für die notwendige Waffentechnik herzustellen – als Filialen wahrscheinlich vorwiegend deutscher Rüstungsfirmen. Das jedenfalls hat eine „Wirtschaftsdelegation“ unter Führung des deutschen Außenministers Wadephul in der Ukraine bestätigt. Das ist durch die zielgenaue Ausrüstung der russischen Aggressoren und ihrer nordkoreanischen und iranischen Zulieferer gerechtfertigt – sozusagen ein Sachzwang. Fragt sich nur, was das mit unseren Gesellschaften macht. Das Problem also bleibt bestehen.
Was mir auch besonders an den herauf dämmernden Zeiten widerwärtig ist: Wenn es die geforderte oder auch nur angedachte allgemeine Wehrpflicht geben wird, fürchte ich schon, dass wieder toxische Ausbildungsoffiziere jungen Männern beibringen werden, „richtige Männer“ zu werden – unsensibel, unempathisch und destruktiv –, sodass so rasch wie möglich ihre schöne Jugendblüte und ihr Lächeln gebrochen wird. Die Angelegenheit ist natürlich komplizierter: Der Eintritt in die Armee findet in einem Alter statt, in dem die männlichen Hormone dominanter werden und dann durch diese toxische „Erziehung“ geprägt werden. Ohne das würde mit wachsender Verantwortung und Erfahrung hoffentlich Empathie und Sensibilität vertieft werden. Ein sozialer Friedensdienst in Krankenhäusern und Altersheimen würde dagegen Letzteres fördern und vielleicht auch die Spaltung der Gesellschaft heilen.
Wäre es nicht besser, die Rüstungsfirmen in einer halbstaatlichen Gruppe in ähnlicher Konstruktion wie bei der ehemaligen Bundesbahn zu vereinigen? Auch das Grundgesetz sieht in Artikel 15 die Verstaatlichung als eine mögliche Maßnahme vor. Mindestens eine Teilverstaatlichung der Rüstungsfirmen würde eine gewisse Kontrolle des Einflusses des militärisch-industriellen Komplexes ermöglichen. Ja, ich weiß, dass das unter den gegenwärtigen Bedingungen eine unrealistische Forderung ist.
Ich werde meine Hoffnung auf eine herrschaftslose Gesellschaft auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben müssen – nach dem großen Knall, wenn der verbliebene kümmerliche Rest der Menschheit hoffentlich sagt: „Aha, das lief falsch!“ Für heute bleiben wenig Illusionen, wenig Hoffnungen und wenig Handlungsmöglichkeiten.