
© Hannah Uhlmann
Parteipolitik
Bewegungs- statt Ostpartei
Die Partei “Die Linke” in der Zweiten Berliner Republik
von Konstantin Petry
Juli 2025
>>
Von der Ersten zur Zweiten Berliner Republik
Die vorgezogene Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 markiert einen Umbruch in der Geschichte der Bundesrepublik, der sich bereits am AfD-Ergebnis für alle sichtbar abzeichnet – schließlich bilden im gewählten 21. Deutschen Bundestag zum ersten Mal nicht CDU/CSU und SPD die beiden stärksten Fraktionen. Neben dieser bereits oberflächlich feststellbaren Verschiebung, dem Schock, dass eine offen rechtsradikale Partei die eine traditionelle Volkspartei deutlich hinter sich gelassen und perspektivisch in Schlagweite der anderen gekommen ist, bietet das Ergebnis weitere Indizien dafür, dass die Bundesrepublik tatsächlich in eine neue Phase ihrer Geschichte eingetreten ist, die man versuchsweise als “Zweite Berliner Republik” bezeichnen könnte.Ironischerweise sind die Verlierer der diesjährigen Bundestagswahl folgerichtig SPD und – wenn auch mehr symbolisch denn numerisch – Bündnis 90/Die Grünen, also gerade die beiden Parteien, deren Wahl bei der Bundestagswahl 1998, neben dem namensgebenden Umzug der Hauptstadt von Bonn nach Berlin, zur “Ersten Berliner Republik” geführt hatte, sowie die mit ihnen in der letzten Legislaturperiode verbündete FDP. Die siegreiche Oppositionsparteien, CDU/CSU, AfD und die Partei “Die Linke”, haben gegenüber dieser extrem unpopulären und innerlich zerstrittenen Ampelregierung auf jeweils ihre Weise erfolgreich polarisierende Wahlkämpfe geführt, während SPD und Grüne erfolglos vor allem ihre allgemeine Konsensfähigkeit herausgestellt haben – die FDP hat als einzige Partei der gescheiterten Koalition einen aggressiveren Stil gewählt, der jedoch nichts am über drei Jahre kultivierten Image als opportunistische Querulantenpartei mehr ändern konnte. Dass die Ampel nicht – wie Schwarzgelb am Ende der Bonner Republik – abgewählt wurde, liegt allein daran, dass die Unionsspitze um Friedrich Merz keinen anderen Koalitionspartner als die SPD vorfinden konnte. Das dahinterliegende Politikverständnis, das “mit einer Mischung aus ,we agree to differ’ und der Orientierung auf das parteiübergreifende Ziel der umfassenden Modernisierung des Modells Deutschland” (so der Politikwissenschaftler Stephan Bröchler) bestehende ideologische Konflikte und ihre gesellschaftlichen Ursachen zu befrieden versucht, hat ausgedient.
Totgesagte leben länger
Gerade in der Rückkehr zur Polarisierung besteht auch ein Grund für das Comeback der Partei “Die Linke”, von dem die Partei selbst überrascht zu sein scheint. Die Co-Spitzenkandidatin und Fraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek spricht es am Bundesparteitag in Chemnitz im März 2025 deutlich aus: “Es ist ein verdammt gutes Gefühl, endlich mal wieder gewonnen zu haben.” Die 8,8% und sechs Direktmandate, die sie bei der Bundestagswahl erhalten haben, machen die Partei zwar mit deutlichem Abstand auf die viertplatzierten Grünen zur kleinsten Fraktion, aber symbolisch zum größten Gewinner der Wahl.
Mitursächlich für diese “Wiederauferstehung”, wie Reichinnek am Wahlabend die erste Hochrechnung von 8,5% kommentierte, ist dabei ausgerechnet die Anfang 2024 erfolgte Abspaltung um Sahra Wagenknecht. Bereits in der Woche nach dem Austritt der umtriebigen Publizistin, die ihr Mandat seit ihrem Bundestagseinzug 2009 immer eher wie einen Nebenberuf ausgeübt hatte, aber medial als “das beliebteste Gesicht” der Partei gehandelt wurde, verzeichnete “Die Linke” bereits “hunderte neue Mitglieder”, die bis zur Mitte des Jahres 2024 von 7.500 Neumitgliedern insgesamt anstiegen.
Elektoral machte sich dieser Mitgliederzuwachs zunächst nicht bemerkbar. Bei den Europawahlen schaffte “Die Linke” nur 2,7%, und bei den Landtagswahlen in ihren ehemaligen ostdeutschen Hochburgen wurde die Partei von Sahra Wagenknechts Abspaltung scheinbar vernichtend geschlagen – in Thüringen blieb die Linke mit ihrem populären Spitzenkandidaten, dem langjährigen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, mit 13,1% wenigstens noch deutlich zweistellig, scheiterte aber in Brandenburg mit desaströsen 3% am Wiedereinzug. In Sachsen wiederum fiel die Partei zum ersten Mal unter die 5%-Hürde, erzielte jedoch in Leipzig die zwei notwendigen Grundmandate zum Einzug in den Landtag.
Dabei machte sich besonders im Wahlkreis Leipzig 1 der Zuwachs an engagierten, vor allem jungen Neumitgliedern erstmals bemerkbar: Der junge und noch eher unbekannte Kandidat Nam Duy Nguyen suchte zusammen mit seinem dreihundertköpfigen Wahlkampfteam das direkte Gespräch an jeder der 50.000 Haustüren seines Wahlkreises. Diese Taktik in einer Zeit, in der andere Parteien lediglich ihre Sichtbarkeit im Netz ausbauen wollen – was die Linkspartei, siehe Caren Lays oder Heidi Reichinneks Erfolge auf TikTok, parallel auch forcierte, auf den konkreten Kontakt mit den Menschen zu setzen, wurde von Nguyen und seinem Team mit einem thematischen Fokus auf alltägliche Nöte kombiniert: Hohe Mieten, ausbaufähiger ÖPNV sowie stetig steigende Preise. Durch die Kombination aus Grassrootskampagne die auf Freiwilligenarbeit basiert, mit klarverständlichen, da aus dem Alltag bekannten Problemen, gelang es der vormals durch jahrelange innere, stets von der mittlerweile abtrünnigen Sahra Wagenknecht angezettelten, Machtkämpfe zermürbten und müde gewordenen “Linken” als agile Partei der konkreten Lebenswelt neu zu erfinden. Am Ende errang Nguyen das Direktmandat mit fast 39,8% – zum Vergleich: die Zweitplatzierte CDU-Kandidatin Cornelia Blattner erhielt 18,4%, die bisher direkt gewählte Abgeordnete Christin Melcher von den Grünen sogar nur 12,8% – und gab damit der ganzen Partei ein Beispiel, das sie bei der kommenden Bundestagswahl grandios wiederholte.
Die gesamtdeutsche Partei der Lebenswelt
Die Konkurrenz zwischen der Partei “Die Linke” und ihrer Rechtsabspaltung in Form des BSW bei Bundestagswahl 2025 ist nicht nur deswegen interessant, weil sie zeigt, dass eine massenhafte Mobilisierung im analogen Alltag die mediale Dauerpräsenz einer populären Figur wie Sahra Wagenknecht im Zweifel schlagen kann, sondern erhellt gleichzeitig eine grundlegende Tendenz in der Entwicklung der “Linken” als Partei im wiedervereinigten Deutschland. 2007 als Verschmelzung zwischen der PDS – also der zu einer demokratischen ostdeutschen Regionalpartei umgewandelten SED – und der SPD-Abspaltung WASG gegründet, artikuliert die neue Partei “Die Linke” von Anfang an den Anspruch, eine gesamtdeutsche Alternative zu SPD und Grünen zu sein. Auf Bundestagswahlen bezogen, ist sie damit sogar verhältnismäßig erfolgreich: 2009 überspringt die Partei prompt in allen 16 Bundesländern die Fünfprozenthürde, um 2013 in Bayern und Baden-Württemberg wieder darunter zu landen. 2017 erreicht die Partei wieder in allen 16 Bundesländern die 5%, nur um 2021 – als allein drei Direktmandate die Partei noch im Bundestag halten – gerade mal in der Hälfte aller Bundesländer, nämlich den Ostbundesländern sowie den drei Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg, die Hürde zu überspringen.
In den konkreten Ergebnissen, die in den verschiedenen Ländern erzielt werden, sind dabei extreme Unterschiede zu beobachten, die sich jedoch immer stärker angleichen: 2009 erhält die Partei in Sachsen-Anhalt ihr bestes Ergebnis mit 32,4% der Zweitstimmen und wird stärkste Kraft, während sie mit 6,5% in Bayern ihr schlechtestes Ergebnis erzielt. Ein Unterschied von fast 26%, der 2013 auf 20% abrutscht – wieder das beste Ergebnis in Sachsen-Anhalt und das schlechteste in Bayern, diesmal mit 23,9% bzw. 3,8%. 2017 beträgt der Unterschied zwischen dem Spitzenergebnis von 17,8% in Mecklenburg-Vorpommern und dem schlechtesten, wie immer in Bayern mit 6,1%, schon weniger als 12%, um dann bei der Katastrophenwahl 2021 endlich einstellig zu werden: In Berlin und Thüringen schafft die Partei 11,4%, in Bayern nur mehr noch 2,8%.
Das Bild, das sich hier ergibt, ist das einer Partei, die das Ungleichgewicht in ihrer Stimmenverteilung zwischen Ost und West vor allem durch zunehmende Verluste in ihren ostdeutschen Hochburgen ausgleicht, also gewissermaßen gesamtdeutsch zunehmend irrelevant wird. Verstärkt kann dies auch anhand der Ergebnisse bei Landtagswahlen beobachtet werden: Bis 2024 ist die Partei in allen ostdeutschen Landtagen vertreten, tut sich in Westdeutschland aber außerhalb der Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg jedoch schwer – lediglich in Hessen und im Saarland, gelingt es, sich über mehrere Legislaturperioden im Landtag zu halten, um schließlich auch hier wieder in der außerparlamentarischen Opposition zu verschwinden.
Mit der Bundestagswahl 2025 verändert sich das massiv. Am stärksten ist die “Linke” nun glasklar in städtischen Ballungszentren wie Berlin, wo sie mit 19,8% sogar stärkste Kraft wird. In Bremen erzielt die Partei 14,8% und in Hamburg 14,5%. Zwar ist sie in ostdeutschen Flächenländern, angefangen mit ihrem zweitbesten Ergebnis in Thüringen (15,2%) weiterhin überall zweistellig und daher deutlich stärker als in westdeutschen Flächenländern, doch ist der Unterschied zwischen 10,7% in Brandenburg und 8,3% in NRW kaum noch augenfällig. Die Partei kann nun im Osten zwar nicht mehr den Status einer Volkspartei beanspruchen, ist aber gerade in Metropolregionen äußerst erfolgreich und kann darüber in alten Hochburgen kompensieren. Es verwundert daher nicht, dass Ferat Koçak bei dieser Wahl in Berlin-Neukölln für die Partei das erste westdeutsche Direktmandat erringen konnte. Koçak und sein Team nutzten dabei genau dieselbe Strategie, die Nam Duy Nguyen bei den Sächsischen Landtagswahlen in Leipzig 1 erfolgreich erprobte, klingelten an allen Haustüren im Wahlkreis, um die konkreten Sorgen der Menschen anzusprechen, und kreierten dabei das Image einer auf Alltagsthemen fokussierten und vor allem jungen Bewegung.
Gerade diese Bezugnahme auf die Lebenswelt, welche dem von Sahra Wagenknecht über ein Jahrzehnt lang aufgebauten Bild der “selbstgerechten Lifestylelinken” radikal entgegensteht, verschaffte dabei außer der “Linken” einen strategischen Vorteil gegenüber SPD und Grünen, die als Säulen der gescheiterten Ampel zum einen für die Missstände verantwortlich gemacht werden konnten, andererseits aber auch schon vor dem Koalitionsbruch dem Druck von rechts, also AfD und Union, immer stärker nachgegeben hatten, zum Beispiel restriktive Methoden wie Grenzkontrollen umzusetzen, und den Wahlkampf entsprechend auch mit zunehmend härteren Positionen zum Thema Migration besetzten. Die Partei “Die Linke”, die vor allem über Mieten sprach und statt Geflüchteten Milliardäre als Feindbild benannte, war so die logische Alternative zu SPD und Grünen geworden, die sie bei ihrer Gründung immer sein wollte. Das galt umso mehr, als die beiden strukturell westdeutschen Mittelinks-Parteien sogar nach der Skandalabstimmung über den 5-Punkte-Plan, als Union, AfD, FDP und BSW zusammen im Bundestag die Notlage und sofortige Grenzschließungen forderten, eine Koalition mit der Union nicht ausschließen wollten. Die Partei “Die Linke” erschien so, auch dank einer exzellenten Rede zum Thema von Heidi Reichinnek, als die progressive, soziale und konsequent antifaschistische Alternative für alle, die definitiv Friedrich Merz nicht als Kanzler haben wollten. Dieses Momentum hält immer noch an. Wenn „Die Linke“ ihre Linie durchhält, die SPD als Juniorpartner der Union noch mehr Profil abgibt, sowie die Grünen sich weiterhin als „konstruktive Opposition“ verstehen und die Rolle als laute demokratische Gegenstimme zur Regierung Heidi Reichinnek und Co. überlassen, hat die noch Ende 2024 als totgegoltene Linkspartei alle Chancen, stärkste Kraft im Mittelinkslager zu werden.
Demgegenüber hat das lange in Umfragen favorisierte BSW nur ein Ergebnis erreicht, wie es früher die Linkspartei typisch war: Vor allem auf die vermeintliche Popularität ihrer Spitzenkandidatin, aber keine Massenbasis gestützt, erzielte die Partei zwar in Ostdeutschland zweistellige Ergebnisse, scheiterte aber in jedem westlichen Bundesland außer dem Saarland – wo Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht leben – an der 5%-Hürde. Das soziale Thema, zu dem die Partei sowieso kaum Profil entwickelt hatte, war von der Partei “Die Linke” genauso besetzt wie eine strikte Migrationspolitik von der Union und vor allem der AfD, die darüber hinaus noch stärker prorussische Positionen bezog als Sahra Wagenknecht selbst. Gewissermaßen ist die Spaltung der Partei “Die Linke” in die, die geblieben sind, und dem BSW, als Verdopplung der Partei zu verstehen – es gibt zum einen die erneuerte Linkspartei als erfolgreiche Stimme der urbanen Lebenswelt, zum anderen mit dem BSW eine nur in Ostdeutschland leidlich erfolgreiche Querulantenpartei, die im Zweifel gesamtdeutsch scheitert.