© Moritz Jost Schnittstellen, Fotografiert im Kollwitzkiez 2004
Statistische Unterschiede in Ost und West
Zwei Leben im Schnitt
Die Bundesregierung ist gesetzlich verpflichtet, für „gleichwertige“ Lebensverhältnisse im Land zu sorgen. Dass dies im Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland kaum gelingt, zeigen die Leben von Jan und Anna, zwei fiktiven Durchschnittsmenschen.
von Niclas Richter
Dezember 2023
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Im Schnitt: Zwei Leben
Bis 1994 sprach das deutsche Grundgesetz dem Bund bei der Herstellung „der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ die Gesetzgebungskompetenz zu. Zugleich verpflichtete sich der Gesetzgeber im Bundesstatistikgesetz, die Verhältnisse, in denen seine Bürger:innen leben, zu vermessen. Anhand der Bundesstatistik lässt sich so unter anderem das Leben in Ost- und Westdeutschland beschreiben, wenn auch nicht in allen Aspekten. Beispielsweise fehlt die Lieblingsnachspeise der Menschen, dafür werden Daten zu Wohnverhältnissen und Einkommen erhoben. Wie sich dennoch die unterschiedlichen Lebensumstände von Menschen in Deutschland abbilden lassen, wollen wir anhand der fiktiven Zwillinge Jan und Anna nachvollziehen. Sie wurden irgendwann um die Wende geboren. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn man der Statistik glaubt?
Zunächst kann man die Wahrscheinlichkeit betrachten, mit der Jan und Anna im Osten geboren wurden. Wurden 1990 noch 22 Prozent aller Kinder auf dem späteren Bundesgebiet in Ostdeutschland (einschließlich Berlin) geboren, so waren es ein Jahr später nur noch 15,6 Prozent [1]. Mit Blick auf Grafik 1 [2] erkennt man den drastischen relativen Rückgang der Geburten in Ostdeutschland in den frühen 1990er Jahren. Der Tiefpunkt war mit 12,7 Prozent im Jahr 1993 erreicht, danach erholte sich der ostdeutsche Anteil an den Geburten zwar bis 2012, geht seitdem jedoch wieder zurück. Auf diesen Verlauf haben viele Faktoren Einfluss wie die ökonomische Situation oder auch die Demographie.
Im Laufe ihrer Schullaufbahn haben Jan und Anna, sofern sie in Ostdeutschland geboren wurden, vergleichsweise wenig Mitschüler:innen. Zur Zeit ihres Abschlusses, zwischen 2006 und 2010, fiel die Anzahl der Schüler:innen in Ostdeutschland auf 131.000 bis 142.000 – eine Zahl, die seitdem stabil geblieben ist [3].
Welche Abschlüsse haben die Zwillinge Jan und Anna aller Wahrscheinlichkeit nach gemacht? In der Grafik 2 [4] kann man die verschiedenen Anteile der Schulabschlüsse in Ost und West sehen. In beiden Teilen Deutschland ist ein Rückgang von Schulabgänger:innen ohne Schulabschluss und Hauptschulabschluss zu beobachten, aber die Schulabbruchquote ist in Ostdeutschland wesentlich höher. Eine Jugend im Osten birgt für Jan und Anna also ein höheres Risiko, in der Schule zu scheitern. Die Abiturquoten sind in Ost und West ähnlich und sind inzwischen auf circa 35 Prozent gestiegen. Jedoch ist das Stadt-Land-Gefälle bei den Abschlüssen unterschiedlich ausgeprägt. Seit 2010 sieht man, dass die Abiturquote in urbanen Regionen Ostdeutschlands höher liegt als in urbanen Regionen Westdeutschland und die ländlichen Regionen zwischen Ost und West sich nur wenig Unterscheiden (siehe dazu Grafik 3 ) [5]. Die größte Chance auf das Abitur hätten die Zwillinge von daher, wenn sie in einer ostdeutschen Großstadt aufgewachsen wären. Es gibt aber noch mehr Indikatoren, die mit dem Schulabschluss korrelieren, unter anderem der Schulabschluss der Eltern [6].
Nehmen wir an, dass Jan eine Ausbildung als KFZ-Mechaniker machte. Das mag zwar stereotypisch sein, aber unter jungen Männern hierzulande ist KFZ-Mechaniker der beliebteste Ausbildungsberuf [7]. Im Zeitraum 2018 bis 2021 gab es in Ostdeutschland im Schnitt 13 Azubis auf 1000 Einwohner:innen, während es in Westdeutschland 18 pro 1000 Einwohner:innen waren. Der Unterschied erklärt sich durch die Altersstruktur: So sind 38 von 1000 Einwohner:innen im Osten zwischen 15 und 20 Jahre alt, im Westen sind es mit 51 wesentlich mehr.
Anna will Lehrerin an einer Gesamtschule werden und beginnt ein Lehramtsstudium. Während des Studiums hängt ihr Einkommen von ihrem Studienort ab. In Sachsen und Thüringen haben Studierende das geringste Einkommen, während Studierende in NRW, Berlin und Hamburg die höchsten Einkommen erzielen. Im Schnitt verdienen Studierende im Osten 91 Euro weniger als im Westen, auch wenn hier die Löhne stärker steigen, wie die Sozialerhebung des Deutschen Studierendenwerks zeigt [9]. Falls Anna im Osten studierte, würde sie mehr BAföG erhalten als ihre Kommiliton:innen im Westen, hätte aber dennoch am Monatsende ein geringeres Einkommen. Studierende in den Stadtstaaten und ostdeutschen Ländern profitieren im Vergleich mehr vom BAföG (siehe Grafik 4). Die hohen Auszahlungsbeträge korrelieren stark mit dem Anteil der Geförderten mit Höchstfördersatz [10]. Unterm Strich zeigt sich also, dass sich das Einkommen der Studierenden in Ost und West anders aufbaut und ihre Eltern unterschiedlich hohe Einkommen haben.
Die Gender-Pay-Gap, die im Jahr 2022 bundesweit bei 18 Prozent lag, ist im Osten aufgrund einer anderen Wirtschaftsstruktur weniger stark ausgeprägt. Zwar erhalten Frauen bei gleicher Anstellung und gleicher Qualifikation weniger Geld, aber Berufe, in denen überwiegend Männer arbeiten, werden im Osten schlechter bezahlt. Daraus folgt, dass das Medianeinkommen von Frauen im Osten höher als das der Männer ist [12]. Dies vermittelt, dass Arbeitsort und Geschlecht immer noch relevant für das Einkommen sind und dass Anna im Osten gegenüber Männern beim Einkommen bessergestellt wäre.
In den Statistiken kann man aber auch sehen, welche Spuren Jan und Anna auf der Erde hinterlassen. Neben der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die die Leistung einer Volkswirtschaft erfassen soll, gibt es die Umweltökonomische Gesamtrechnung, die die Einflüsse des Menschen auf die Natur misst. Dabei werden unter anderem Flächenverbrauch, Entnahme von Rohstoffen und Abfälle erfasst.
In den zwei aktiven Tagebauen in Brandenburg werden pro Jahr 35 Millionen Tonnen Kohle gefördert, was die Emissionsbilanz des Landes verschlechtert. Obwohl in NRW dreimal so viel Kohle gefördert wird wie Brandenburg, hat NRW durch die hohe Einwohnerzahl einen geringeren pro Kopf Ausstoß an CO2. Die Einsparungsspitzenreiter Berlin und Thüringen habe auch den geringsten absoluten Ausstoß an Treibhausgasen mit 4 Tonnen beziehungsweise 6,2 Tonnen CO2-Äquivalenten [15]. Bemerkenswert ist zudem, dass Ostdeutschland seinen Treibhausgasausstoß zwischen 1990 und 2019 fast halbiert hat, während die alten Bundesländer nur 25 Prozent ihrer Treibhausgase eingespart haben.
Wenn man also der Statistik Glauben schenkt, erscheinen die Leben von Jan und Anna vor allem als eines: ein ganz schöner Zahlensalat. Der Blick in die Statistik macht jedoch auch deutlich, dass die Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland nach wie vor sehr unterschiedlich sind. Der Gesetzgeber hatte – Probleme bei der Bewältigung seiner Aufgabe, für einheitliche Lebensverhältnisse zu sorgen, wohl vorausahnend – im Jahr 1994 das Grundgesetz dahingehend verändert, dass er sich heute lediglich um „gleichwertige“ Lebensverhältnisse zu bemühen hat. Die möglichen Leben von Jan und Anna hinterlassen den Eindruck, dass der Staat, trotz des gesenkten Anspruchs, seiner Aufgabe nur langsam nachkommt.
[1] Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, Abrufdatum 12.11.2022; Datenlizenz by-2-0; Tabelle: 12612-0100; eigene Berechnung
[2] Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, Abrufdatum 12.11.2022; Datenlizenz by-2-0; Tabelle: 12612-0100; eigene Darstellung
[3] Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, Abrufdatum 12.11.2022; Datenlizenz by-2-0; Tabelle: 12612-0100; eigene Berechnung
[4] Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, Abrufdatum 12.11.2022; Datenlizenz by-2-0; Tabelle: 12612-0100; eigene Darstellung
[5] Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, Abrufdatum 12.11.2022; Datenlizenz by-2-0; Tabelle: 12612-0100 und 12411-0018; eigene Darstellung; eigene Berechnung.
Unter urbanen Regionen in dieser Analyse werden kreisfreie Städte mit über 100.000 Einwohner:innen zusammengefasst und alle anderen Regionen werden als ländliche Regionen bezeichnet.
[6] https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/183038/schulbesuch-nach-schulabschluss-der-eltern/ Abrufdatum: 8.12.2022
[7] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Berufliche-Bildung/Tabellen/azubi-rangliste-neuabschluss-maennlich.html Abrufdatum: 28.12.2022
[8] Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, Abrufdatum 12.11.2022; Datenlizenz by-2-0; Tabelle: 12411-0018; eigene Berechnung
[9] Middendorf, E., et al.: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2016. Seite 40, Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.), Bonn / Berlin, 2017. Abgerufen unter: https://www.dzhw.eu/pdf/sozialerhebung/21/Soz21_hauptbericht_barrierefrei.pdf
[10] Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, Abrufdatum 12.11.2022; Datenlizenz by-2-0; Tabelle: 12612-0100; eigene Berechnung; eigene Darstellung
[11] Der Gehaltsrechner ist unter: https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Visualisiert/Gehaltsvergleich/_inhalt.html#sprg421056 abrufbar. Die Daten basieren auf die Eingabe vom 28.12.2022 mit folgenden Parametern: Beruf: Gesamtschullehrer/-in, KFZ-Mechaniker/-in; Branche: Erziehung und Unterricht, Handel mit KfZ, Reparatur von KfZ; Abschluss: Master, Ausbildung; Alter: 30 Jahre; Befristung: Nein; Tarif: Ja; Unternehmensgröße: keine Angabe, 10 – 49 Beschäftigte; Unternehmenszugehörigkeit: 3 Jahre.
[12] https://www.arbeitsagentur.de/datei/entgelte-2017-2021-nach-geschlecht-bund-und-laendern_ba147561.pdf Abrufdatum 02.01.2023
[13] Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, Abrufdatum 12.11.2022; Datenlizenz by-2-0; Tabelle: 62361; eigene Berechnung. Die Berechnung der saisonbereinigten Werte erfolgte mit dem X-13ARIMA-SEATS-Verfahren.
[14] Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, Abrufdatum 12.11.2022; Datenlizenz by-2-0; Tabelle: 63121-0005; eigene Berechnung; eigene Darstellung
[15] Umweltökonomische Gesamtrechnung der Länder. Herausgeber: Arbeitskreis Umweltökonomische Gesamtrechnungen der Länder im Auftrag der Statistischen Ämter der Länder. Ausgabe 2022. Tabelle 5.2; eigene Darstellung.
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Niclas Richter studierte Mathematik und arbeitet jetzt als Statistiker. Vor kurzem zog es ihn wieder zurück in den Osten.