© Moritz Jost Schnittstellen, Fotografiert im Kollwitzkiez 2004
NS-Zwangsarbeit in Brandenburg
„Wir haben sie doch zu nichts gezwungen“
Der Einsatz von Zwangsarbeiter:innen auf dörflichen Familienhöfen während des Nationalsozialismus ist bis heute kaum aufgearbeitet. Bei der Erforschung ihrer Familiengeschichte in einer brandenburgischen Kleinstadt deckt die Autorin achtzigjähriges Schweigen auf, sucht in Archiven nach den Spuren der Verschleppten und gibt Hinweise für eigene Recherchen.
von Anna Gabehlung
Dezember 2023
>>
Aus welchen Puzzleteilen setzt man die eigene Familiengeschichte zusammen? Aus Geschichten die erzählt werden, aus Fotos und Erinnerungsstücken. Aus den Antworten, die man bekommen hat, ohne Fragen zu stellen. Aus den Fragen, die man gestellt hat, ohne Antworten zu bekommen. Aus dem, was gesagt wird und aus dem, was nicht gesagt wird. Dinge von denen man weiß, dass man sie nicht weiß. Und dann gibt es da noch Leerstellen, von denen einem nicht einmal bewusst ist, dass es sie gibt. NS-Zwangsarbeit, auf dem Hof meiner Urgroßeltern, ist Teil der Geschichte meiner Familie. Lange war das allerdings eine dieser unbekannten Leerstellen. Es gab dazu keine Frage, die unbeantwortet blieb oder ein Schweigen, das für alle wahrnehmbar im Raum hing. Es wurde einfach nicht als das benannt, was es war und hat deswegen lange auch nicht in meiner Familienerzählung existiert. Und das, obwohl die Vergangenheit häufig Thema bei uns war:
„Erzählt was von früher!“ Das war eine Aufforderung mit der ich als Kind meine Großeltern regelrecht nervte. Oft saßen wir zusammen in der Küche und sie mussten die immer wieder gleichen Geschichten aus ihrer eigenen Kindheit erzählen. Mein Opa, aufgewachsen in eben jenem Haus in dessen Küche wir saßen, erzählte oft von einem jungen Mann aus Polen, der auf ihrem Hof arbeitete. Das war Anfang der vierziger Jahre. Die Küche, das Haus und der Bauernhof in einer kleinen brandenburgischen Stadt, mehr Dorf als Stadt, sind auch der Ort an dem ich aufgewachsen bin. Die Geschichten die mein Opa erzählte, spielten sich also an einem Ort ab, der auch mir bestens vertraut war. Allerdings in einer anderen Zeit. Interessant fand ich es vielleicht gerade deshalb. Ich wurde älter und beschäftigte mich viel mit dem NS, las Bücher, schaute Filme, besuchte Museen und Gedenkstätten. Und ich saß wieder mit meinen Großeltern in der Küche und stellte Ihnen Fragen. Eine Frage die ich allerdings nie stellte, weder meinem Opa noch mir selbst, war die, was dieser junge Mann aus Polen auf dem Hof meiner Urgroßeltern Anfang der 40er Jahre wohl gemacht hat. Und wie er dort hin kam. Erst viel später, ich weiß den genauen Anlass nicht mehr, wollte ein Freund von mir wissen, ob es auf unserem Hof wohl während des Nationalsozialismus auch Zwangsarbeiter:innen gegeben hat. Ich erinnere mich auch nicht mehr, ob es schon in diesem Moment oder nach einem weiteren dieser Küchengespräche mit meinem Opa war, dass ich seine Erzählungen damit in Zusammenhang brachte. Ich finde es heute immer noch erstaunlich, dass ich nie zuvor diese Verbindung herstellen konnte. In unserem Gespräch wurde klar, dass dieser Mann nicht der einzige Zwangsarbeiter war. Und das war ein Teil meiner Familiengeschichte über den ich bisher nichts wusste. Über den nie jemand gesprochen und nach dem bisher auch nie jemand gefragt hatte. Allerdings waren die Informationen spärlich, die mein Opa, der damals selbst noch ein Kind war, mir geben konnte. Wer waren diese Menschen, woher kamen sie und was wurde aus ihnen? Ich wollte mehr darüber herausfinden. Mit einem Freund begann ich diesen Fragen nachzugehen.
Namen in Archiven
Wir kontaktierten die Arolsen Archives und das örtliche Stadtarchiv, bei denen wir eine umfangreiche Liste von Zwangsarbeiter:innen fanden bzw. Einblick in das Meldebuch der Stadt bekamen. Denn auch Zwangsarbeiter:innen wurden offenbar penibel an- und abgemeldet. Dadurch konnten wir alle Personen, die auf dem Hof Zwangsarbeit leisten mussten, namhaft machen, auch wenn wir damit nichts Näheres über die weiteren Umstände erfuhren. Insgesamt handelte es sich um fünf Personen: Jan Buback, Helena Adamski und Franz Jakowski aus Polen, Wassily Treschenko aus der Sowjetunion und Elie Puig aus Frankreich. Zwei wechselten nach einiger Zeit die Arbeitsstätte, während die anderen drei, soweit bekannt, bis zum Kriegsende am Hof blieben. Dies deckt sich auch mit den Erinnerungen meines Opas. Er erzählte, dass er mit seiner Familie kurz vor Ankunft der Roten Armee den Hof verließ, um sich im Wald zu verstecken. Die Zwangsarbeiter:innen aber blieben. Sie gingen, als die Familie wenige Tage nach der Befreiung zurückkehrte. Was danach mit ihnen passierte, bleibt leider Spekulation. Trotz unserer Kenntnis über die Namen, Geburtsorte und -daten dieser Menschen konnten wir über ihren weiteren Weg nichts herausfinden.
Die Listen die wir sichteten beinhalteten nicht nur die Namen dieser fünf Menschen, sondern die von insgesamt ca. 550 weiteren Personen, die zwischen 1940-1945 Zwangsarbeit leisten mussten – in einer brandenburgischen Kleinstadt die 1939 nur rund 3300 Einwohnende zählte und kaum nennenswerte Industrie hatte. Das verdeutlichte uns das Ausmaß dieser Thematik und bestätigte einmal mehr: Zwangsarbeit war ein Massenphänomen, auch hier in der brandenburgischen Provinz. Keine Ausnahme, sondern die Regel. Das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide geht davon aus, dass insgesamt rund 8,4 Millionen Menschen während des Krieges als zivile Zwangsarbeiter:innen nach Deutschland verschleppt wurden und rund ein Drittel davon in der Landwirtschaft eingesetzt wurde.
Brachliegende Leerstellen
Diese erste Recherche konnte unsere anfänglichen Fragen zumindest teilweise beantworten, warf aber auch neue auf. Denn auch außerhalb der Landwirtschaft profitierte man in diesem Ort von Zwangsarbeit. Neben den Privathaushalten fanden sich die Namen diverser Betriebe, hauptsächlich Industrie und Handwerk, außerdem die Reichsbahn und die Forst, bei denen eine teilweise dreistellige Zahl an Menschen eingesetzt war. Was waren das für Betriebe? Wer steckte dahinter? Was passierte mit diesen Menschen? Wie verhielt sich die restliche Bevölkerung? Und schlussendlich auch, hatte sich schon mal irgendjemand zuvor damit beschäftigt? Letzteres konnten wir recht schnell mit Nein beantworten. Wir fanden wenig Literatur zum Nationalsozialismus allgemein in der Region und nichts spezifisch zum Thema Zwangsarbeit in dem Ort. All diese Dinge schienen noch nie systematisch aufgearbeitet worden zu sein. Das ist ebenfalls immer noch eher die Regel als die Ausnahme, auch wenn in den letzten Jahren immer mehr Regionalstudien oder Ausstellungen zu verschiedenen, auch kleineren Orten veröffentlicht wurden. Das Thema Zwangsarbeit wurde innerhalb der eh schon sehr spät begonnenen Aufarbeitung des NS in Deutschland lange vernachlässigt. Im Ort gibt es zwar einige Informationstafeln an Sehenswürdigkeiten und kleinere Beiträge der Ortschronisten im Lokalblatt. Bei denen wird die Zeit des NS jedoch entweder komplett ausgeblendet oder lediglich als Einschnitt erwähnt. Und nirgendwo ein Wort über die Zwangsarbeiter:innen.
Wir mussten mit unseren Recherchen dazu also quasi bei null anfangen. Systematisch sammelten wir nun Namen und Betriebe bzw. Haushalte aus den Listen und werteten diese aus. Es gestaltete sich sehr schwierig, mehr über die Betroffenen herauszufinden, als die spärlichen Informationen aus dem Meldebuch. Wir begannen unsere Archivrecherche auszuweiten. Vom Stadt- ging es ins Landesarchiv, von dort ins Bundesarchiv und wieder zurück. Doch das Problem mit den Antworten, die immer nur noch neue Fragen aufwerfen, blieb. Und bleibt bis heute. Wir kennen jetzt die Namen all dieser Menschen, wissen woher sie kamen, wie alt sie waren, wo sie arbeiten mussten und wie lange. Darüber hinaus wissen wir allerdings bis heute zu fast niemandem von ihnen mehr als das.
Von der Familiengeschichte zur Lokalgeschichte
Umfangreicher ist unser Wissen im Bezug auf die Täter:innen und Profiteur:innen. Nach und nach konnten wir uns ein Bild von den Ereignissen in diesem Ort machen, auch wenn Einiges weiterhin im Unklaren blieb und Manches vielleicht auch nicht mehr vollständig rekonstruierbar ist. Geschichte findet nicht in einem Vakuum statt und sie ist nicht zu Ende oder vollständig, nur weil man die letzte Seite einer Akte in irgendeinem Archiv gelesen hat. Unsere Suche und die Themen die wir bearbeiteten weiteten sich mit der Zeit aus.
Wir stießen auf die örtliche Jugendgruppe der KPD. Wie also waren die politischen Verhältnisse vor 1933 in der Region? Was passierte mit politischen Gegner:innen nach der Machtübergabe? Was passierte mit den Täter:innen nach der Befreiung? Und wie lief das Kriegsende im Ort ab? Wir fingen auch an, uns mit den jüdischen Einwohner:innen des Ortes zu beschäftigen. Stolpersteine erinnern an zwei von Ihnen, aber schnell wurde deutlich, dass weitaus mehr Jüd:innen in den 1930er Jahren im Ort lebten. Ihre Deportations-, Flucht- und Migrationsgeschichte, die wir Stück für Stück nachzuzeichnen versuchten, führte uns, dank der zunehmenden Digitalisierung im Archivwesen, zu immer entfernter gelegenen Einrichtungen bis nach Australien, Brasilien, in die USA und nach Israel.
Auch außerhalb von Archiven und Bibliotheken haben wir versucht mehr herauszufinden. Es gab einige Menschen im Ort, die bereit waren, ihre Erinnerungen und ihr Wissen bzw. das was sie davon preisgeben wollten, mit uns zu teilen. Und so saßen wir wieder in Küchen und hörten uns Geschichten an. Häufig waren das interessante Unterhaltungen, die aber letztendlich selten dazu beitrugen, dass sich unsere Wissenslücken schlossen. Oft haben wir uns gefragt, ob es daran liegt, dass die Familiengeschichten dieser Menschen auch Täter:innengeschichten sind oder schlicht und einfach daran, dass kaum noch jemand lebt, der mehr als Kindheitserinnerungen an diese Zeit hat.
Mittlerweile haben wir viele hundert Seiten Material gesammelt, aus einer Vielzahl an Ländern und in diversen Sprachen, haben uns viele Stunden durch Akten gewühlt und versucht alle diese Informationen zu ordnen und zu verstehen. Demgegenüber steht allerdings auch die Vermutung, dass wir bei der Suche nach weiteren Quellen wohl langsam an unsere Grenzen stoßen und dass es auf manche Fragen womöglich auch keine Antworten (mehr) geben wird.
Gegen das Vergessen
Vielleicht schließen sich mit solchen Rechercheversuchen Lücken in der eigenen Familiengeschichte. Vielleicht ändert sich die Sichtweise darauf auch noch einmal grundsätzlich. Als ich vor vier Jahren meinen Opa darum bat, mir alles, an was er noch erinnern kann, über die Zwangsarbeiter:innen zu erzählen, antwortete er mir:
„Welche Zwangsarbeiter? Wir haben die doch zu nichts gezwungen!“
Eine Deutung, die, so oder so ähnlich formuliert, sicherlich nicht nur in meiner Familie maßgeblich die Auseinandersetzung mit dem Thema Zwangsarbeit, aber auch Täter:innenschaft im NS allgemein erschwert.
Wir planen die Ergebnisse unserer Recherche irgendwann zu veröffentlichen. Im Bezug auf meine Familiengeschichte konnten wir ziemlich viele Fragen mit unseren Nachforschungen beantworten. Gleichzeitig kamen wir aber jenseits dessen mit so vielen Schicksalen von Betroffenen in Berührung, für die sich offenbar bisher vor Ort niemand interessierte, geschweige denn dass ihnen gedacht wird. Weiterhin erinnert nichts im Ort an die Zwangsarbeiter:innen, genauso wenig wie an viele andere Betroffene, die als Jüd:innen, politische Gegner:innen, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Lebensweise oder körperlichen Merkmale während des NS verfolgt und ermordet wurden. Gedenken kann allerdings nur dort stattfinden, wo es auch das Wissen über die Taten gibt. Aus diesem Grund wollen wir versuchen, zumindest diese Leerstelle im Ort zu schließen und die Betroffenen dem Vergessen zu entreißen.
*Onlineressourcen für die eigene Recherche*
Viele Archive haben in den letzten Jahren ihre Bestände digitalisiert und vieles davon ist auch mittlerweile online einsehbar. Personenbezogene Recherche, zB. zu ehemaligen Wehrmachtsangehörigen ist über das Ausfüllen eines Online Formulars beim Bundesarchiv möglich. Außerdem gibt es in jedem Bundesland ein Staats- bzw. Landesarchiv. Wir haben uns unter anderem auch an das regionale Kreisarchiv, sowie diverse Stadtarchive und Regionalmuseen gewandt.
Dokumentationszentrum NS Zwangsarbeit in Berlin Schöneweide
Arolsen Archives – weltweit größtes Archiv zu Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus
DRK-Suchdienst für Vermisste in Folge des zweiten Weltkriegs mit Onlineformular
Wehrmachtsauskunftsstelle (Teil des Bundesarchivs) – Anfragen zu ehemaligen Wehrmachtsangehörigen können über ein Onlineformular gestellt werden
<<
Anna Gabehlung ist aus der brandenburgischen Provinz nach Berlin gezogen. Nun denkt sie manchmal darüber nach wie es wäre wieder zurück aufs Dorf zu ziehen. Bei den Archivrecherchen unterstützte sie ihr guter Freund Lutz.