Zwei Leben im Schnitt, Bilderreihe: Schnittstellen, Berlin 2004, Moritz Jost

© Moritz Jost Schnittstellen, Fotografiert im Kollwitzkiez 2004

Debatte über Ostdeutschland

Was Oschmann nicht zu denken wagt, geschweige sich traut zu sagen

„Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ heißt das von Dirk Oschmann vorgelegte Buch. Es ist eine schonungslose Darstellung der politischen Lage des ostdeutschen Kleinbürgertums im Gesamtstaat. Schweigen herrscht indes zu wichtigen Fragen, denn Repräsentanz und Re-Industrialisierung sind nur in Verbindung mit mehr sozialer Gleichheit zu haben. Eine ostdeutsche, sozialistische Betrachtung der Debatte.

von Autorenkollektiv Ost
Dezember 2023

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Jüngst gab es ein Rauschen im Blätterwald der westdeutsch dominierten veröffentlichten Meinung. Einer der wenigen Inhaber eines Lehrstuhls an einer ostdeutschen Hochschule mit ostdeutscher Biografie hat es gewagt, die eklatante Unterrepräsentanz nicht nur im Gesamtstaat Deutschland zu thematisieren, sondern vor allem in Ostdeutschland selbst. Eine durch wissenschaftliche Studien untermauerte Kritik. Anderes lassen die Fakten auch nicht zu.

Dirk Oschmann, Professor der Literaturwissenschaft, hat damit einseitig ein unausgesprochenes, aus der Zeit der Wiedervereinigung stammendes „Agreement“ aufgekündigt. Das stellte wenigen, noch in der DDR sozialisierten jungen Erwachsenen eine berufliche Zukunft in der „Elite“ der neuen-alten Bundesrepublik in Aussicht. Die Voraussetzung dafür war, die eigene, kollektiv eingebettete DDR-Erfahrung gegen das westdeutsche Narrative über die „SED-Diktatur“ auszutauschen, es öffentlich zu vertreten und entsprechend der jeweiligen Profession aktiv weiterzuentwickeln. Wer die Erwartung erfüllte, dem winkte eine Karriere mit entsprechendem Lebensstandard und öffentlicher Anerkennung.

Auch Oschmann gehörte zu den wenigen Jungakademikern aus dem ostdeutschen, kleinbürgerlichen Milieu. Ihnen schmeichelte sicher der westdeutsche Standesdünkel, Teil einer gesellschaftlichen Elite zu sein. So ergriffen sie die sich ihnen gebotene Chance. Sie gingen entweder außer Landes, um die Grundlagen einer universitären Laufbahn zu legen, oder blieben vor Ort und erfüllten ihre Rolle sofort: als ostdeutsches, junges und deshalb glaubhaftes, von der sozialistischen Idee nicht infiziertes Beispiel die westdeutschen Erzählungen über den Osten zu legitimieren.

Die Rahmenbedingungen der als notwendig erachteten Ostkolonisierung wurden in westdeutschen PR-Etagen gesetzt, tatkräftig unterstützt von der bundesdeutschen Wissenschaft. Auch sie hatte eine unausgesprochene Abmachung mit den Herrschenden. Die Akademiker hielten still bei dem Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, als „Abwicklung“ bezeichnet, d.h. flächendeckende Entlassungen hauptsächlich in den geisteswissenschaftlichen Richtungen. Im Gegenzug gab es Stellen in den neu gegründeten Instituten im Osten. Ein Vorgang, der bis heute anhält.

Die westdeutschen Kader waren – und sind es noch heute – erste Wahl bei der Absicherung der kolonialen Verhältnisse. Wegen der Glaubwürdigkeit des zu verbreitenden Narratives einer „SED-Diktatur“ benötigte man aber eine geringe Anzahl „Eingeborener“, die die ihnen zugedachte Rolle glaubwürdig spielte – egal, ob aus eigener Überzeugung oder Opportunismus. Am Ende zählt das Ergebnis: die Herrschaftssicherung des Westens über den Osten, und damit des Kapitalismus über einen im wahrsten Sinne des Wortes real existierenden Sozialismus.

Die eingeforderte Teilhabe des ostdeutschen Kleinbürgers
Die persönliche Kündigung des „Agreements“ durch Oschmann geschieht nur teilweise, denn seine Kritik zielt nicht auf eine Rehabilitation der ostdeutschen Gesellschaft. Deren heutige Verfasstheit und die darin vorhandene Renitenz sind vorrangig in der realsozialistischen Sozialisation ihrer Mitglieder und deren teilweise Weitergabe an die nächste Generation zu suchen. Um das zu verstehen, müssten die Oschmannschen Einsichten grundsätzlicher Natur sein, was unter dem gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnis kaum zu erwarten ist.
Für die Anklage der westdeutschen Deutungshoheit über ostdeutsche Verhältnisse gilt Dirk Oschmann aber größter Dank. Nicht mehr und nicht weniger. Seine kleinbürgerliche Analyse der Ursachen und die daraus folgende Handlungsstrategie verbleiben im Rahmen eines traditionellen kapitalistischen Elitedenkens. Sie sind deshalb ungeeignet, den Status quo zu ändern.

Oschmann geht es dabei nicht um mehr Gleichheit unter den Gesellschaftsmitgliedern, sondern um das dem eigenen sozialen Milieu entsprechende Privileg, in Gesamtdeutschland als ostdeutscher Teil der Funktionselite mitreden zu dürfen. Unklar bleibt indes, welchen Charakter dieser explizit ostdeutsche Beitrag haben soll? Woher nimmt er seine Bestimmung, wenn es nicht eine realsozialistische ist? Vielleicht aus der Widerständigkeit der „friedlichen Revolution“?

Der Realismus einer proletarischen Gesellschaft
Falls es die „friedliche Revolution“ sein soll, ist einiges an Geschick notwendig, um von ihr eine gerade Linie zur Wiedervereinigung zu ziehen. Nicht nur, dass sich die gesamte Oppositionsszene der DDR als eine sozialistische Reformbewegung verstand. Auch eine Mehrheit von 71 Prozent der DDR-Bürger plädierte laut einer ZDF-Spiegel-Umfrage noch 1989 nach der Maueröffnung für ein eigenständiges Land. Ernüchterung über die politische Perspektive zog erst ein, als die von den Westparteien korrumpierten ehemaligen Blockparteien die Seiten wechselten.

Die Unabhängigkeit vom großen westdeutschen Bruder war unrealistisch, denn Gorbatschow hatte das realsozialistische Experiment in Osteuropa beendet. Der in der DDR erworbene Sinn für das „Mögliche“ gepaart mit der Erfahrung, dass das Versprechen einer Regierung, vor allem ein soziales, einen Wert hat, führte zu einer Verschiebung der Prioritäten. In der Hoffnung, im Kapitalismus müsse es ähnlich laufen, stimmte man in den ersten und letzten Wahlen einer parlamentarischen Demokratie auf dem Boden der DDR für die Wiedervereinigung.

Rasch nach dem Anschluss merkten die Ostdeutschen, dass sich ihre in der eigenen Reformbewegung 1989 erworbene Vorstellungen von „Demokratie“ fundamental von der nun im gesamten Land geltenden bürgerlich-parlamentarischen Demokratie Westdeutschlands unterschied. Als Illusion erwies sich auch die Idee, dass die Gesellschaftsmitglieder, wegen der Praktikabilität über Parteien vermittelt, die Entwicklung des Gemeinwesens bestimmen und die Volksvertreter an ihre Versprechungen vor der Wahl gebunden sind.
Viele, die eine Wiedervereinigung befürwortet hatten, sahen sich an ihren DDR-Staatsbürgerkunde-Unterricht erinnert, in dem man ihnen erzählt hatte, dass in der BRD Kapitalinteressen und nicht das Volk, die Werktätigen, regieren. Kohls Versprechen der blühenden Landschaften wurden angesichts von De-Industrialisierung und Entvölkerung Ostdeutschlands in einem anderen als dem erwarteten Sinn real. Verschwunden war die soziale Sicherheit, die der reale Sozialismus der Arbeiterklasse, die ja die herrschende Klasse war, auch bei politischer Renitenz garantiert hatte.

Nun aber fehlte die Grundlage, um mit dem in der DDR erworbenen proletarischen Selbstbewusstseins die Versprechungen des Westens nachdrücklich einzufordern. So wie es die Arbeiter in der Anfangszeit der DDR am 17. Juni 1953 spektakulär taten. Als die SED verstanden hatte, dass das soziale Versprechen für die Klasse einen zentralen Stellenwert hatte, verbesserte man bis zum Ende des Staates immer weiter die Arbeits- und Lebensbedingungen.

Verweigerte Solidarität der westdeutschen Eliten
Ostdeutsche, die sich als Teil der gesamtdeutschen Elite wähnen und weiterhin am Karriereagreement der ersten Stunde festhalten, sahen sich nach Erscheinen des Oschmann-Buches verpflichtet, es zu verreißen. Geht es doch – bei kleinen taktischen Zugeständnissen – darum, die seit mehr als 30 Jahren vertretene Sicht des Westens auf den Osten weiterhin hegemonial zu halten. Eine Sicht, die seit vier, fünf Jahren sogar von nach dem Anschluss aufgewachsenen Ostdeutschen zaghaft infrage gestellt wird.

Generationsübergreifendes gesellschaftspolitisches Interesse hielt das Buch mehrere Wochen auf Platz 1 und bis heute in der Spiegel-Bestsellerliste. Was das Unterfangen, es zu diskreditieren, nicht einfacher machte. Die Gegenargumente wirken hilflos: Es wurde zu einem „Wutbuch“ emotionalisiert, das nicht differenziert; das Beschriebene wurde aufgrund der allseits sichtbaren Realität zwar nicht infrage gestellt, sondern die Verantwortung dafür wieder zurück an die Ostdeutschen gegeben: Es gäbe schließlich keinen Grund zur Aufregung, hätten sie doch selbst für die Wiedervereinigung gestimmt und gewusst, was auf sie zukommt.

Oder ihnen wird der Ratschlag gegeben, selbstbewusster aufzutreten, dann klappt es schon mit den Führungspositionen. Nicht die Demokratie schädigenden Zustände aus westdeutscher Hand sind das Problem, sondern die davon Betroffenen – der altbekannte kapitalistische Zynismus, diejenigen für die Zustände verantwortlich zu machen, die ihnen ausgeliefert sind.

Dirk Oschmanns Wünsche und ihre scheinbare Unmöglichkeit
Das von Oschmann repräsentierte ostdeutsche Milieu möchte in gesamtgesellschaftlichen Fragen mitreden. Sie wollen einfach nur die Rechte, den Status und damit die Privilegien, die ihren Brüdern und Schwestern der Westelite für ihre systemstabilisierende Arbeit am Kapitalismus als Lohn zuteil wird . Diese Forderung ist nicht neu, sie kam schon aus der rechtsnationalen Ecke. Ein Beispiel dafür ist der Autor Uwe Tellkamp und seine Ansichten zu Flüchtlings- und Migrationsfragen. Jetzt hat sich ein Linksliberaler zu Wort gemeldet.
Warum wird die Teilhabe nicht gewährt? Nicht einmal pro forma? Wäre es doch ein Leichtes, ein folgenloses Programm aufzulegen, das in Aussicht stellt, dass sich irgendwann der Anteil der ostdeutschen Bevölkerung in den gesamtdeutschen Führungspositionen widerspiegelt. Eine 100-prozentige Repräsentanz in Ostdeutschland könnte man dabei sogar stillschweigend unter den Tisch fallen lassen. Die Kritik würde vorerst verstummen und sich die Chance bieten, den Pöbel im Osten besser unter Kontrolle zu halten. Einer möglichen Instabilität des Systems wäre die Grundlage entzogen.

Kritik auffangen und integrieren, um sie zu nutzen, zählte bislang zu den Vorteilen bürgerlicher Gesellschaften westlicher Prägung. Diese in Zeiten der Systemkonkurrenz mit dem Realsozialismus bis zur Perfektion getriebene Fähigkeit scheint, da der Gegner fehlt, verloren gegangen zu sein. Eine 30 Jahre nur an die eigene Dominanz gewöhnte westdeutsch sozialisierte Mittelschichtselite ist, wenn sich gesellschaftliche Stimmungen ändern, sogar zu kleinen Zugeständnissen für den eigenen Machterhalt nicht mehr in der Lage. Dabei würde es sich in diesem Fall nur um eine Normalisierung kapitalistischer Elitenkonstellationen handeln.

Da nichts in diese Richtung geschieht, ist es wahrscheinlicher, dass man – die eigene Propaganda glaubend – derart von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt ist, dass ein ernsthaftes Integrieren der kleinbürgerlichen, ostdeutschen Elitegenossen nicht abzusehen ist. Eine zugestandene Teilhabe würde natürlich den unangenehmen Nebeneffekt haben, dass sich die persönlichen Karrierechancen der bevorzugten Westdeutschen verringerten. Denn die Positionen müssten unter einer größeren Gruppe aufgeteilt werden. Damit schließt sich der Kreis zur Anfangszeit des Elitenwechsels in Ostdeutschland. Der bürgerliche Individualismus mit der verinnerlichten kapitalistischen Konkurrenz kommt zu sich selbst. Denn im Osten ist für die Privilegierten alles so, wie es sein soll: Der Streit um die Pfründe bleibt in der kleinbürgerlichen „Familie West“.

Wer in dieser das Sagen hat, darum streiten zwei Kapitalfraktionen – die nationalkonservative und die linksliberale – bei derzeitigen Vorteilen für letztere. Dabei geht es um den Zugriff auf die von den Kapitaleignern zur Verfügung gestellten Ressourcen, um das System zu verwalten. Die Funktionseliten werden siegen, die die lukrativsten Aussichten zur Kapitalverwertung bei geringsten eigenen Kosten bieten, verbunden mit der dafür notwendigen Identifizierung einer Mehrheit der von bürgerlichen Verhältnissen Betroffenen.

Westdeutschland weiter am Ruder
Und so versucht man, die Spannungen zwischen Ost und West auszusitzen. In schwachen Momenten verschärft man sie ungewollt, ist man doch des ostdeutschen Problematisierens und dessen Resonanz überdrüssig. Verhalten sich die Ostdeutschen nicht konform, folgt die Bestrafung.
Ein Beispiel ist die lancierte Diskussion um eine Umbenennung der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ in „kommunistische Diktatur“; von den ostdeutschen Aufarbeitungskadern selbst in einem Akt vorauseilendem Gehorsams angeregt. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, wie könnte es anders sein, nimmt es wohlwollend und zustimmend zur Kenntnis. Man kann nicht behaupten, dass die ostdeutschen Statisten nicht versuchen, die ihnen zugedachten Rollen zu erfüllen.

Nur wen interessieren solche Maßregelungen noch, haben sich doch relevante Teile der ostdeutschen Gesellschaft aufgrund des eigenen Demokratieverständnisses von der Praxis seiner westdeutsch bürgerlich-parlamentarischen Variante abgewendet. Demokratiedefizit im Osten? Wohl eher das Durchschauen von 30 Jahren dieser Art Politikinszenierung.

Parlamentarische Wahlen werden zu einem beträchtlichen Teil nur noch dazu genutzt, mit der Stimmabgabe für die AfD westdeutsche, vor allem linksliberale Eliten auf die eigene abweichende Interessenlage hinzuweisen. Wohl wissend, dass eine nationalkonservative Partei, die zwar in erster Linie nicht die Interessen des globalisierten Großkapitals vertritt, sondern die des immobilen lokalen Kapitals, die soziale Frage genauso unsozial beantworten wird. Wenn man schon diskriminiert wird, dann erfüllt man alle Klischees richtig, die auf einen projiziert sind. Aber warum spielt man nicht den sozialistischen Underdog?

Der Ostler steht, da sind sich beide Kapitalfraktionen einig, wegen seiner suspekten Vergangenheit weiterhin in Sippenhaft. Hatten es doch seine Vorfahren als Proletarier und mit ihnen verbündete Intellektuelle 40 Jahre lang gewagt, das dem Kleinbürgertum quasi per Naturrecht zustehende gesellschaftliche Führungsprivileg nicht nur infrage zu stellen, sondern dies auch in die Tat umzusetzen.

Nicht mehr weit sind da die gefährlichen Fragen nach dem „besseren Deutschland“, das den Antifaschismus verordnete und die soziale Sicherheit konsequent umgesetzt hat. Selbst die ostdeutsche Generation nach dem Anschluss ist in dieser Hinsicht ein unsicherer Kantonist, und deshalb noch nicht reif als Träger der bürgerlichen Gesellschaft westlicher Prägung. Unterminiert sie doch die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ mit „gleichmacherischen Forderungen“ nach ostdeutscher Repräsentanz.

Der kleinbürgerliche Blick auf den Realsozialismus
Man sollte Dirk Oschmann darauf hinweisen, dass es nicht reichen wird, wenn es um Teilhabe und Mitgestaltung der gesamtdeutschen Gesellschaft geht, an den Hegemon zu appellieren, er möge doch Gerechtigkeit walten lassen. Das hat er mehr als 30 Jahre lang nicht getan. Warum sollte er das jetzt tun? Es ist doch bis jetzt alles gut gelaufen! Nichts wird einem im Kapitalismus einfach gewährt, alles muss gegen Widerstände erkämpft werden. Das kann man vom Proletariat lernen. Auch die DDR war Ergebnis der Systemauseinandersetzung.

Doch um Gleichheit unter Gesellschaftsmitgliedern geht es Oschmann nicht, sonst wären seine Aussagen zum Realsozialismus nicht so westdeutsch, so uninformiert. Gipfelnd in der asozial-egoistischen Feststellung, dass es in der DDR ideologisch und politisch verboten war, ein heute vererbbares Vermögen anzuhäufen. Folge davon ist, dass das ostdeutsche Kleinbürgertum heute seinen Kindern nicht dieselben Startbedingungen bieten kann wie das aus dem Westen.

Welch „Ungerechtigkeit“, die die westdeutsche Zivilgesellschaft schnellstens korrigieren muss. De facto sind eigentlich die Nachkriegskommunisten für die fehlende Repräsentanz verantwortlich. Eine bis heute nachwirkende Verantwortung der „SED-Diktatur“. Die westdeutschen Marktwirtschaftsdemokraten waren während der Wiedervereinigung schier überfordert mit der rückständigen „Planwirtschaft“. Und ja, gibt man in selbstkritisch folgenloser Posse zu, „es wurden Fehler gemacht“.

Glaubt noch jemand an diese zugerichtete Realität, hinter der die eigentlichen Verantwortlichkeiten verschwinden sollen? Im Osten jedenfalls nicht!

Aber Biografie und Klasseninteressen des Bestsellerautors lassen keine anderen Einsichten zu. Da möchte man nur mit den Worten Bertolt Brechts „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich“ reagieren, ohne den Herrn Professor mit weitergehenden politökonomischen Details zu belästigen.

Sozialistische Realpolitik: Repräsentanz und Re-Industrialisierung
Trotz alledem bleibt die fehlende Repräsentanz und der veröffentlichte Diskurs über Ostdeutschland ein Ärgernis und ein zu ändernder Zustand. Auch wenn Oschmann wahrscheinlich meint, er und seinesgleichen würden die Interessen der ostdeutschen Mehrheit vertreten, wenn sie nur mitreden dürften. Doch stammen die Vorschläge, um dies zu erreichen, aus dem seit 30 Jahren schon ausgiebig genutzten, erfolglosen Werkzeugkasten.

Da hilft auch nicht der belehrende Hinweis, dass in „modernen westlichen Demokratien“ das „kulturelle Kapital“ über die individuellen Möglichkeiten des „sozialen Aufstiegs“, und damit auch über die Repräsentanz der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe, entscheidet, so in mindestens einer seiner Lesungen gefallen. Und weiter: Man müsse deshalb über den von den „68ern“ erfolgreich erprobten Umweg des „Marsches durch die Institutionen“ zum gewünschten Ziel kommen.

Das eigene karrierefördernde Agieren zum Vorbild nehmend, übersieht der Autor, dass nach der dafür notwendigen Assimilation wenig „Ostdeutsches“ übrig wäre, was die gesamtdeutschen Verhältnisse beeinflussen könnte. Das Ergebnis ist bei den heute in Verantwortung stehenden linksliberalen westdeutschen Eliten zu sehen. Sie sind durch ihre eigene Schule gegangen und für die demokratiebeschädigenden Zustände in Ostdeutschland verantwortlich.

Das führt zu der banalen Erkenntnis, dass die ostdeutsche Gesellschaft, um ihre Interessen durchzusetzen, etwas anders machen muss, als bisher von interessierter Seite empfohlen. Um den Nachteil auszugleichen, nicht an der politischen Entscheidungsfindung beteiligt zu sein, sollte erstens die Frage der Repräsentanz und zweitens die der Reindustrialisierung über die Grenzen der politischen Richtungen hinweg eingefordert werden.
Eigens dafür eingerichtete gesamtostdeutsche Strukturen würden bei westdeutschen Verantwortlichen schon Eindruck machen. Um dabei nicht bei bürgerlichen Verhältnissen stehenzubleiben, ist eine ostdeutsche sozialistische Linke nötig, die auf der Grundlage eines kritisch solidarischen Verhältnisses zur DDR die Forderung nach Teilhabe mit der Forderung nach mehr sozialer Gleichheit verbindet.

Dazu muss eine solche Linke ein realistisches und die Interessen der ostdeutschen Lohnabhängigen widerspiegelndes Politikangebot machen, das mehr überzeugt als die phrasenhaften Versprechungen der politischen Mitbewerber. Das macht ein kritisches Hinterfragen linker, im Osten übernommener westdeutscher Praxen unumgänglich, die in den vergangenen 30 Jahren noch mehr gesellschaftlichen Einfluss verloren haben, als es in der alten BRD sowieso schon der Fall war.

Ein realistisches Politikangebot, das die Behandlung der sozialen Frage in den Mittelpunkt stellt, kann aber scheinbar nur glaubwürdig formuliert und im Alltag zusammen mit den davon Betroffenen verankert werden, wenn sich das dazu notwendige Personal aus sich selbst rekrutiert. Auch das ist eine Erkenntnis der nach 1990 verlängerten bundesdeutschen Realität. Zu oft und in den unterschiedlichste Kontexten offenbaren die nicht eingehegten kleinbürgerlichen Politaktivisten ihre Eliteallüren. Damit verbundene ist das Zurückfallen auf die Verwirklichung der Interessen ihrer eigenen privilegierten Schicht. Das Ergebnis ist Handlungsunfähigkeit und/oder kapitalistische Kompatibilität einer liberalen Linken.

Wenn es um Repräsentanz und Teilhabe sowie Reindustrialisierung in Ostdeutschland geht, würde jedes politische Taktieren für den eigenen Machtgewinn nur dem Prinzip des „Teile und Herrsche“ westdeutscher Eliten in die Hände spielen. Uns würde das alle paar Jahre wieder ein Buch wie „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ bescheren. Oder wie das ARD-Kulturmagazin „Titel, Thesen, Temperamente“ in seinem Beitrag zum Bestseller schloss: das Thema zur „Wiedervorlage“. Bis man selbst der eigenen Ohnmacht überdrüssig ist

… Genau das ist das Ziel.

 

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Die Autoren des Autorenkollektiv Ost trennt beinahe eine ganze Ost-Generation. Doch die aktuelle politische Entwicklung der sozialen Frage in Ostdeutschland bringen Ost-Linke unterschiedlichster Prägung zusammen. Das kleine Kollektiv widmet sich hauptsächlich linken Startegien aus der Perspektive von Lohnabhängigen in Ostdeutschland.

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