© Moritz Jost Schnittstellen, Fotografiert im Kollwitzkiez 2004
Häuserkampf in Ostberlin
Von der stillen Besetzung zur politischen Bewegung
Es begann mit heimlichen Einzügen in leerstehende Wohnungen, als die DDR zu Ende ging, und wurde zu einer Bewegung mit Strahlkraft. Hausbesetzungen waren Teil linker Politiker in Ostberlin der Wendejahre. Doch so viel Freiheit wollten die neuen Herrscher aus dem Westen nicht durchgehen lassen. Dritter und letzter Teil einer Serie über stilles Besetzen und illegales Wohnen in der DDR.
von Dietmar Wolf
Dezember 2023
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In der DDR war Wohnraum bezahlbar, aber Mangelware. „Schwarzes Wohnen“ und stille Besetzungen waren ein probates Mittel, um an Wohnraum zu gelangen. So waren in den Ostberliner Altbaubezirken ganze Häuser besetzt.
Offene Hausbesetzungen gab es auch schon vor dem Herbst 1989, sie waren aber selten. So besetzten Punks und alternative Jugendliche Ende der 1980er-Jahre ein Haus in der Gleimstraße und in der Wörther Straße, beide im Prenzlauer Berg, sowie ein Haus in der Pfarrstraße in Lichtenberg. Die Besetzungen wurden recht schnell von Volkspolizei und Staatssicherheit beendet, die dahinter die Bildung neuer konspirativer „feindlich negativer“ Zentren vermuteten.
Das erste offizielle Haus, das sich die Besetzer:innenbewegung in Ostberlin nahm, war ursprünglich eine „stille Besetzung“. In direkter Nachbarschaft zur Polizeiinspektion Prenzlauer Berg versuchten die Besetzer:innen der Schönhauser Allee 20 zunächst nicht aufzufallen. Erst Ende Dezember 1989 traten sie öffentlich als Hausbesetzung auf. Das geschah in einer Zeit, als im Durcheinander der Wende viele Gruppen leer stehende Häuser in den maroden Altbauvierteln Ostberlins suchten.
Es gab damals (mindestens) zwei Motive: Die einen wollten „nur“ einen geeigneten Raum für gemeinsame Wohn- und Lebensprojekte. Sie begriffen sich selten als Teil eine Hausbesetzer:innenbewegung. Für die anderen waren Besetzungen ein politischer Akt, bzw. es ging ihnen darum, endlich eigene Räume für politische Arbeit zu haben und nicht mehr auf Wohnzimmer oder Pfarrhäuser angewiesen zu sein.
Zwischen Januar und März 1990 wurden rund 50 Häuser besetzt. Überwiegend von Ostberliner:inen im Prenzlauer Berg. Es folgten Besetzungen in Mitte, Friedrichshain und Lichtenberg, aber überwiegend von Menschen aus Westberlin und Westdeutschland. Im Spätsommer 1990 waren in Ostberlin bereits etwa 200 Häuser besetzt – eine Zahl, die überraschte.
Alltag im besetzten Haus
Um den Informationsfluss zwischen den Häusern zu verbessern und Aktionen miteinander koordinieren zu können, bildete sich Ende Januar/Anfang Februar 1990 ein erster „Besetzerrat (B-Rat)”. Die Zahl der Häuser, die tatsächlich im B-Rat mitarbeiteten, wechselte ständig – alle waren es aber nie. Zu Hochzeiten waren es 120 Häuser, am Ende etwas mehr als 80.
Schon ab dem Frühjahr 1990 mussten sich die besetzten Häuser gegen eine Vielzahl von Naziangriffen wehren. Abgesprochene und aufeinander abgestimmte Aktionen waren genauso notwendig wie einigermaßen funktionierende Info-Netze zwischen den Häusern. Denn damals gab es noch kein Internet, auch Telefone waren selten. Das Äußere der Häuser veränderte sich: Zu schwarz-roten Fahnen und Transparenten kamen Gitter, mit denen die Fenster geschützt wurden. Aus Furcht vor marodierenden Horden von Fußballfans und Neonazis wurde manches Haus in eine regelrechte Festung verwandelt.
Zunächst sollte der B-Rat gemeinsames und abgestimmtes Handeln der Besetzer:innen aller Häuser organisieren sowie den Schutz vor und die Abwehr von Naziüberfällen koordinieren. Zur selben Zeit begannen die Versuche, die gewonnenen Freiräume gegenüber dem Staat abzusichern. Vorrangiges Ziel war es, Sicherungsverträge für die Häuser abzuschließen. Das Mittel dafür waren Verhandlungen.
Anfangs sprachen einzelne Häuser separat mit der zuständigen Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV). Doch stand bei diesen bald die Umwandlung in GmbHs auf der Tagesordnung, sodass sie keine Kompetenzen mehr hatten. Der B-Rat beschloss deswegen, nur noch direkt mit dem Magistrat zu verhandeln. Dafür wurde am 22. Juni 1990 das Vertragsgremium des B-Rates gegründet.
Aus dem Westen importiert
Am 27. Juni 1990 kam es zum ersten Treffen, an dem völlig inkompetente Vertreter:innen des Magistrats teilnahmen. Eine erste reguläre Beratung fand am 4. Juli 1990 statt, zu dem der damalige Stadtrat Thurmann einen gerade frisch aus der Westverwaltung importierten Beamten namens Holzinger schickte. Holzinger hatte bereits nach 1980/81 in Westberlin die Verhandlungen mit Besetzer:innen geführt.
Nach dem Treffen mit Holzinger schätzte das Vertragsgremium ein, dass „die Stadt im Augenblick weder ein Interesse noch die Zeit [habe], sich ausführlich mit besetzten Häusern zu beschäftigen“. [1] Doch da irrten die Besetzer:innen. Die Stadt hatte genug Zeit, einen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung herbeizuführen, der mit dem Stichtag 24. Juli 1990 die sogenannte Berliner Linie auch im Ostteil der Stadt einführte. Damit hatte die Stadt den relativen Frieden mit den Hausbesetzer:innn einseitig aufgekündigt. Nun galt: Räumung von Neubesetzungen innerhalb von 24 Stunden.
Am 31. Juli 1990 stecken die Verhandlungen erstmals in der Sackgasse. Vor allem ein zusätzlich aufgetauchtes Problem, die notwendige Winterfestmachung der Häuser, war damit in den Sand gesetzt. „Die vom Magistrat angekündigte Projektgruppe für Hausbesetzungen hält sich bereits im Voraus für nicht zuständig. […] Politische Handlungsunfähigkeit ist zu bescheinigen. […] Angesichts der bevorstehenden großdeutschen Wahlen ist die Devise: ‚Verhaltet Euch ruhig und friedlich, friedlich, friedlich, dann könnt ihr bis kurz nach den Wahlen in den Häusern bleiben.‘“[2]
Keine Chance auf Verlängerung des kurzen Sommers der Anarchie
Immer mehr Menschen hatten den Eindruck, veralbert zu werden. Nicht unberechtigt, denn der Magistrat war nicht unfähig und auch nicht untätig. Am 10. August erteilte jener Herr Holzinger dem Westberliner Anwaltsbüro Dr. Knauthe und Partner den Auftrag, mittels eines Gutachtens zu prüfen, wie besetzte Häuser nach dem noch geltenden DDR-Recht zu räumen sind. Das Gutachten wurde zwei Wochen später durch die Kanzlei übergeben und in Gesprächen am 3. September und einem Brief erläutert.
Die Herren kamen zu dem Schluss, dass eine Räumung nach DDR-Recht „leider“ nicht möglich wäre, solange nicht die Namen der Besetzer:innen bekannt seien. Am 30. August nimmt daraufhin der Magistrat die Verhandlungen wieder auf. Am 3. Oktober 1990 kehrt die DDR „heim ins Reich“. Am 8. Oktober wurden die Verhandlungen endgültig durch den Magistrat abgebrochen. Pikant war die Begründung: Man verhandle nicht mit anonymen Gremien, man wolle Namen (siehe oben).
Rückblickend zeigt sich, dass es für einen langfristigen und gesicherten Fortbestand der besetzten Häuser, besonders für die zwölf der Mainzer Straße, zu keiner Zeit eine Chance gab. Dass diese Häuser überhaupt so lange durchhalten konnten, war der Zeit und den besonderen Umständen im „kurzen Sommer der Anarchie“ geschuldet.
Der erklärte Wille zur Räumung bestand auch schon zwischen Januar und September 1990. Nur fehlten dem Ostberliner Magistrat die Möglichkeiten und Mittel. Der Westberliner Senat hatte diese. Dass seine Hoheit erst am 3. Oktober 1990 begann, hinderte ihn allerdings nicht daran, schon frühzeitig mit der Planung einer unverzüglichen Räumung der Mainzer Straße, unmittelbar nach der Eingliederung des Ostens, zu beginnen. Als sich die Westberliner Wohnungsbaugesellschaften im Laufe des Sommers 1990 die KWVs einverleibten, war sichergestellt, dass die besetzten Häuser in Ostberlin, besonders die der Mainzer Straße, auf keinen Fall langfristige Verträge erhalten würden.
Der B-Rat lag da bereits am Boden, zerfressen durch internen Streit. Anlass waren spätestens ab Sommer 1990 – vorsichtig ausgedrückt – unterschiedliche Vorstellungen von der Art und Weise, wie politische Diskussionen geführt werden. Leute aus Ostberlin warfen den „Westlern“ Mackerverhalten und Besserwessitum vor. Die wiederum konterten vor allem an die Adresse der Vertreter:innen aus dem Prenzlauer Berg mit Vorhaltungen über ihr „Sektierertum“. [3] Inhaltliche Auseinandersetzungen über die Vorwürfe wurden nicht geführt.
Dem Unverständnis der einen Seite stand die Arroganz der anderen und deren Verweis auf angeblich längere politische Traditionen gegenüber. Aus dem Riss innerhalb des Rates wurde schnell eine tiefe Kluft. Eine mindestens informell wichtige Struktur der Besetzer:innenbewegung löste sich so aus kleinlichen Gründen und menschlichem Unvermögen langsam selbst auf. Einzig ein neuer Terminus war in die Diskussion autonomer Zusammenhänge in Berlin neu eingebracht worden: der „Ost-West-Konflikt“.
Die Räumung der Mainzer Straße
Zu diesem Zeitpunkt hatte die monatelange Hinhaltetaktik der Zuständigen in den Bezirken, im Magistrat und Senat Früchte getragen. Die Besetzer standen mit leeren Händen da; der bundesdeutsche Staat war bereits am 3. Oktober 1990 mit viel Feuerwerk, sehr viel Blaulicht, geschwungenen Knüppeln und Tränengas endgültig über den Osten Berlins gekommen.
Nun wurden andere Saiten aufgezogen. Jetzt hatte der Senat nicht mehr nur den Willen, sondern auch die Macht, Räumungen mit entsprechenden Polizeimaßnahmen abzusichern und durchzusetzen. Die Berliner Polizei war dafür bestens gerüstet und hatte schon Wochen vorher ausgiebig die Räumung großer Ansammlungen von Häusern trainiert. Eigens dafür hatte man sich bei den US-Streitkräften eingemietet, die damals in Berlin-Gatow über ein spezielles Gelände für den Häuserkampf verfügten.
Und: „Bereits Mitte September war von Amtsträgern des Stadtbezirks Berlin-Lichtenberg eine Information über Einsichtnahme in polizeiliche Einsatzpläne lanciert worden, in denen davon ausgegangen wurde, dass nach einer Räumung von nach dem 24.07. besetzten Häusern in der Pfarrstraße, für die Räumungsbegehren vorlagen, vermutlich um die Mainzer Straße Unruhen ausbrechen würden, die eine Räumung nach Polizeirecht möglich machen könnten.“ [4]
Der Berliner Senat und natürlich auch die BRD-Regierung konnten und wollten besetzte Häuser in Berlin keinesfalls dulden, eine solche Konzentration wie in der Mainzer Straße schon gar nicht. Die Vorstellung, „eine größere, für den Staat schon nicht mehr überschaubare Gruppe“ würde sich aus ihm ausklinken, ist für Herrschende allgemein unvorstellbar und deshalb auch nicht diskutabel. Also hat man „versucht, Dinge zu beenden, ohne dass eine kontroverse Diskussion sowohl über Ziele und Inhalte von Hausbesetzungen als auch über die staatlichen Mittel dagegen geführt werden konnte. Und man musste auch selbst die Diskussion über und mit Hausbesetzern, über die Probleme von Jugendlichen nicht führen und konnte die eigene Konzeptionslosigkeit ganz gut verstecken.“ [6]
Nachdem im August und September mehrere Hausbesetzer:innendemos stattgefunden hatten, nachdem man eine Neubesetzung in Mitte geräumt hatte und eine andere in Friedrichshain wegen des entschlossenen Widerstands der Besetzer:innen dulden musste, nach dem der Ton rauer geworden war und es inzwischen eine eigene BesetzerInnenZeitung gab (erstmals erschienen am 5.8.90), geht die Verwaltung zum Angriff über. In den frühen Morgenstunden des 12. November 1990 werden zwei Häuser in Lichtenberg und ein Haus im Prenzlauer Berg geräumt. Begründung: Besetzung nach dem 24. Juli, an dem die „Berliner Linie“ übernommen worden war.
Bezirkspolitiker:innen wie etwa der stellvertretende Stadtbezirksbürgermeister von Prenzlauer Berg, die durch eilige Depeschen versucht hatten, den Wahnsinn aufzuhalten, wurden an die Wand gedrängt. Der Senat will – also sei es. Der Protest gegen die Räumungen, besonders aus den besetzten Häusern in der Mainzer Straße, entwickelte sich binnen Stunden zu einer Straßenschlacht. Die erste Runde endete in der Nacht zum 13. November und ging an die Besetzer:innen. Am 14. November wurde die Mainzer Straße von mehr als 4000 Polizisten, inklusive Wasserwerfern, Räumpanzern, Hubschraubern und Sondereinheiten geräumt. Das war das größte Polizeiaufgebot, die das Nachkriegsberlin bei der Abwehr alternativer Lebensvorstellungen bis dahin gesehen hatte.
Warum wurde geräumt? Weil die SPD es so wollte!
Abseits davon, wie man zur Polizei und dem Einsatz gegen die Besetzungen in der Mainzer Straße steht, war und ist die Polizei ein Werkzeug der jeweils herrschenden Macht. Vor diesem Hintergrund und den Aussagen von damaligen Politiker:innen und Zeitzeug:innen bleibt nur ein Schluss, dass die Mainzer Straße geräumt wurde, weil die Berliner SPD-Führung um den Regierenden Bürgermeister Walter Momper den Befehl gab und dies auch unbedingt so wollte. Anders als ominöse Gerüchte behaupten, war es nicht die mittlere, von der CDU dominierte Polizeiebene, die gegen den damaligen rot-grünen Senat putschte.
Hinzukommt, dass durch die Räumung der kleinere Regierungspartner, die Alternative Liste (AL), aber auch das Abgeordnetenhaus sowie die Politiker:innen in den Stadtbezirken umgangen und ausgehebelt wurden. Es gab auch keine Diskussions- oder Kompromissbereitschaft seitens der SPD-Führung, die sich während der Räumung tagelang versteckte, verleugnen ließ und die gesamte Verantwortung auf die Polizei abschob. Die Aussage des damaligen Chefs des Ostberliner Magistrats, Thomas Krüger (SPD), die Politik halte sich zurück, wenn die Polizei handelt, ist ausgemachte Einfalt und war eine plumpe Schutzbehauptung.
Dass die gesamte Führungsspitze der Berliner SPD nicht einmal für die damalige AL-Chefin Renate Künast zu sprechen war, belegt: Die SPD glaubte, mit einer überzogenen Law-and-Order-Strategie bei den Wähler punkten und auf die AL verzichten zu können. Das Ergebnis: Rot-Grün flog nach der Räumung der Mainzer auseinander, bei den folgenden Neuwahlen verlor die SPD und war nur noch der kleine Koalitionspartner der CDU.
Und die Besetzer?
„Nach der Schlacht“ machte sich in der Besetzer:innenbewegung Resignation breit. Die stadtweiten Strukturen, vor allem der B-Rat, zerbröselten völlig. Eine wirkliche Aufarbeitung der Ereignisse fand bis heute nicht statt. Alle waren sich mehr oder weniger darin einig, dass nun die Phase von Hausbesetzungen hinter den Barrikaden und vor den Wasserwerfern ihr Ende gefunden habe. Dass damit nachträglich den Senatsstrategen, die die Aktion mit Lügen und Verdrehungen der Wahrheit zu rechtfertigen suchten, recht gegeben wurde, ist innerhalb der Besetzer:innenwegung nie vollständig realisiert worden.
Nicht zufällig war die Mainzer Straße Ziel der Staatsaktion, galt sie den Beamten doch als „Kopf der Bewegung“. Obwohl sich in Strukturen, die ein gleichberechtigtes Miteinander kennen (und solche sind Senatsbehörden eben nicht), eine solche Vorstellung ad absurdum führen sollte/müsste, ist der Zusammenbruch jener stadtweiten Zusammenarbeit eine Bestätigung dieser aberwitzigen Behauptung. Zu der hier eingeforderten Aufarbeitung müsste auch die Frage gehören, inwieweit auf dem am meisten politisch handelnden Teil einer Bewegung durch andere Teile Verantwortung delegiert wird; inwieweit sich die anderen darauf verlassen, dass „die da“, die „Politcracks“, es schon richten werden.
Schlußbemerkung
Nach 25 Jahren ist die Hausbesetzer:innenbewegung der Neunzigerjahre nicht viel mehr als ein Mythos. Doch selbst zur Demonstration anlässlich des fünften Jahrestages der Räumung der Mainzer Straße kamen gerade einmal 300 Menschen, viele waren Jugendliche.
Trotz allem waren die Berliner Hausbesetzer:innenbewegungen der Jahre 1980/81 und 1990 in anderen Teilen des Landes für viele, vor allem junge Menschen eine Inspiration. Sie besetzten Häuser und schufen dort ein ganz neues, wichtiges sozio-politisches Umfeld.
Letztendlich ist es einigen Häuseraktivist:innen zu danken, dass sie im Nachhinein die Schlacht bei der Räumung um die Mainzer Straße politisch klug nutzen konnten, um durch zähe Verhandlungen längerfristige Mietverträge auszuhandeln. So konnte ein beträchtlicher Teil der Häuser und Freiräume bis in die heutige Zeit bewahrt werden. Heute sind diese wichtige, emanzipatorische, soziokulturelle Inseln.
Trotzdem ist klar: Viele der Ziele und Hoffnungen auf selbstbestimmtes Leben, gerechte Lebensbedingungen und bezahlbare Mieten in einer Gesellschaft wie Deutschland und in Boom-Städten wie Berlin sind leider unerfüllt geblieben. Schlimmer noch, durch explodierende Mieten und skrupellose Verdrängung ist Berlin für viele Menschen unbezahlbar geworden.
Ist also das richtige Leben im Falschen letztendlich doch nicht machbar? Warum also ein Haus besetzen? Sollte man nicht lieber das System abschaffen, denn die derzeitige Situation ist nichts weiter als Ausdruck und Folge einer unstillbaren systemimmanenten Gier des Kapitals nach immer mehr und maximalen Profit? Was also tun? Statt zu sagen: „ehe dieses Schweinesystem nicht abgeschafft ist, wird sich nichts verändern und ich sitze [so lange] hier Café trinkend herum“ [7], sollte man nicht aufhören, Widerstand zu leisten. Denn nur so kann sich etwas verändern.
Deshalb ist es „gut und richtig, weiter Häuser zu besetzen!“ [8] Auch wenn Hausbesetzungen heute unweit schwieriger sind als 1990 oder 1980/81. Man sollte es immer wieder versuchen. Denn „jede Besetzerbewegung ist ja auch eine soziale und kulturelle Bewegung, und wenn Leute ihr Schicksal dann selbst in die Hand nehmen […], das ist immer besser als alles andere. […] Und deswegen ist das unbedingt zu begrüßen, auch wenn jetzt in der Innenstadt keine freien Wohnhäuser zum Besetzen rumstehen.“ [9]
In dem Song von Ton Steine Scherben heißt es am Schluss:
„Der Traum ist aus, zu dieser Zeit
Doch nicht mehr lange – mach dich bereit
Für den Kampf ums Paradies
Wir haben nichts zu verlieren, außer uns’rer Angst
Es ist uns’re Zukunft, unser Land
Gib mir deine Liebe, gib mir deine Hand
[…]
Der Traum ist – aus
Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird“
In diesem Sinne …
1 Die Bewegung ist tot, es lebe die Bewegung – telegraph 8/1991-22.8.1991
2 Ebda
3 Ein großer teil der „Ostler-Häuser“ wollten sich nicht vom B-Rat vertreten lassen. Besonders im Prenzlauer Berg wollte man sich nicht dem Diktat der federführenden „Westler-Häuser“ aus Friedrichshain unterwerfen. Viele der „Ostler-Häuser“ führten separate Einzelverhandlungen
4 Autorenkollektiv: Berlin – Mainzer Straße. Wohnen ist wichtiger als das Gesetz, Berlin, BasisDruck Verlag 1992
5 Ebda
6 Ebda
7 Der Traum ist aus, http://telegraph.cc
8 Ebda
9 Ebda
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Dietmar Wolf, geb. 1964, lebt in Ostberlin. Er war seit 1987 Mitarbeiter in der DDR-Opposition, 1989 Mitbegründer der wichtigsten DDR Oppositionszeitschrift telegraph, Mitbegründer der ersten Ostberliner Antifa, in den 1990er Jahren Hausbesetzer und aktiv in antifaschistischen Gruppen. Er ist Mitarbeiter und Autor für diverse Bücher, Zeitschriften und Publikationen.