© Moritz Jost Schnittstellen, Fotografiert im Kollwitzkiez 2004
Von wegen Wiedervereinigung?
Familienbrüche im Kapitalismus
Das gängige Wiedervereinigungsnarrativ scheint nicht für alle gültig zu sein und verdeckt soziale Schieflagen zwischen Ost- und Westdeutschland. Durch eine persönliche Geschichte lernen wir eine andere Erzählung kennen und erfahren, was Klasse mit Ost und West zu tun hat.
von Friedemann Wiese
Dezember 2023
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Am 3. Oktober gab es wieder Feierlichkeiten zur sogenannten Wiedervereinigung. Viele sprechen auch von Beitritt oder Anschluss, so zum Beispiel Yana Milev in „Das Treuhand-Trauma“. Die Begriffe zeigen, dass sich das Bild zu den Ereignissen in Deutschland von 1989 bis 1990 und dem Davor und Danach in den letzten Jahren durchaus ausdifferenziert hat. Es ist vielfältiger geworden. Mehr Perspektiven bekommen Gehör. Ein gelungenes Beispiel dafür ist das Buch „Erinnern stören“ von Lydia Lierke und Massimo Perinelli. Das vorherrschende Narrativ scheint aber immer noch jenes vom glücklich wiedervereinigten Land zu sein. Es ist jene Geschichte von einem demokratischen Aufbruch, der nicht nur zu einer Revolution führte, sondern auch von vornherein nur das Ziel hatte sich mit der Bundesrepublik zu vereinigen. Es mag vereinzelt Dissident:innen gegeben haben, die dieses Ziel hatten. Die Breite der Bewegung zielte sicher nicht darauf ab, das zeigt nicht nur der Aufruf „Für unser Land“ aus dem November 1989. Die Ziele der Protest- und Selbstermächtigungsbewegung, die zum Mauerfall 1989 führte, waren Meinungs- und Bewegungsfreiheit, nicht ein Zusammenschluss mit der BRD oder gar eine Ein- beziehungsweise Unterordnung ins kapitalistische System der BRD. Das Ziel war ein demokratischer Sozialismus.
Die Geschichtsschreibung liegt aber in den Händen der Gewinner. In diesem Fall sind das die Gewinner des Kalten Krieges: ein weißes, kapitalistisches Bürgertum mit völkischer Prägung. Darum galt die Erzählung von der erfolgreichen Wiedervereinigung lange Zeit als unhinterfragbar gesetzt. Veranschaulicht wird sie in weiten Teilen der westdeutsch dominierten Medienlandschaft auch heute noch von den Geschichten von Familien, die durch 27 Jahre Mauer getrennt waren – Familien, die teils in West, teils in Ost lebten und Schwierigkeiten hatten sich zu sehen, deren Kontakt einschlief. Viele solcher Geschichten gab es und ich kann es mir kaum vorstellen, wie groß die Freude gewesen sein muss sich wieder nahe sein zu können. Mich aber traf es vor einiger Zeit wie ein Schlag, als ich feststellte, dass es in meiner Familie anders war. Ich befand mich in einem Bildungsworkshop im polnischen Łódź. Nach fünf Tagen intensiver Arbeit zu Geschichten europäischer Transformationen ging ich davon aus, in der abschließenden Biografiearbeit von einem persönlichen Allgemeinplatz zu erzählen. Emotional überwältigt stellte ich aber fest: Meine Familie wurde durch den Beitritt der DDR zur BRD getrennt. Es war ein massiver Bruch, der sich seither durch unsere Familie zog, ein scheinbar immer größer werdender Graben, den ich in dem Moment zum ersten Mal richtig zu begreifen begann, obwohl mir die rein räumliche Tatsache sehr wohl bekannt und offensichtlich war.
Die Wege trennen sich
Ich bin in Leipzig geboren. Von dort stammt die Familie meiner Mutter. Die Familienangehörigen ihrer und der älteren Generationen übten überwiegend handwerkliche, technische oder kaufmännische Berufe aus, waren Buchhändlerinnen, Tischler, Anlagentechnikerinnen oder Berufskraftfahrer. Die Familie meines Vaters stammt aus Berlin und ist akademisch geprägt. Sowohl mein Opa, als auch mein Vater und meine Tante haben studiert, mein Vater sogar promoviert. Bei allen Unterschieden zwischen Leipzig und Berlin, unterschieden sich unsere Lebensrealitäten in einigen zentralen Punkten nicht nennenswert. Wir alle lebten in Miet- oder Genossenschaftswohnungen, gingen zu Fuß, fuhren mit dem Fahrrad oder der Straßenbahn zur Arbeit und kauften im Konsum ein. Konzerte klassischer und populärer Musik waren uns allen ebenso zugänglich wie Sportereignisse. Die DDR war mit Sicherheit nicht das klassenlose Paradies, das seine Politelite gern gesehen hätte, erst Recht nicht für Vertragsarbeiter:innen, aber soziale Ungleichheiten waren sicher geringer als sie danach sein sollten.
Noch bevor die DDR formell der BRD beitrat, zogen westdeutsche Manager durch die Werke der ostdeutschen Maschinenbauindustrie und warben dabei meinen Vater an, einen gut ausgebildeten Ingenieur. Das fiel vermutlich leicht, da mein Vater nicht viel von der DDR hielt und die Entscheidung für ihn nach Westdeutschland zu ziehen sicher eine einfache war. Und so befand er sich schon im November 1990 bei seinem neuen Arbeitgeber in Offenbach am Main. Meine Mutter und ich zogen im Sommer 1991 nach. Der Umzug von Sachsen nach Hessen entpuppte sich als mehr als ein „einfacher“ Umzug von einer Stadt in die andere. Es war mehr als ein Umzug von Magdeburg nach Rostock, von Chemnitz nach Potsdam oder von Stuttgart nach Düsseldorf, von Hamburg nach Aachen. Es war ein Umzug von Ost nach West und damit mehr als eine geografische Distanz, die fortan zwischen meinen Eltern und mir und der Familie in Leipzig und Berlin liegen sollte. Unsere Lebenserfahrungen sollten seither komplett unterschiedliche werden.
Mein Vater machte Karriere als Maschinenbauingenieur. Er ordnete sich ein, passte sich an. Ausufernde Überstunden sind bis heute für meinen Vater nichts ungewöhnliches. Über die Gründe für den Arbeitseifer kann ich nur spekulieren. Ehrgeiz? Angst vor der zuvor unbekannten Arbeitslosigkeit? Welche Rolle spielten die zu dieser Zeit allgegenwärtigen Herabwürdigungen als „fauler Ossi“? Das alles verschwimmt hinter den allseits beschworenen wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Eine Krise folgte auf die andere. In meiner Wahrnehmung herrschte bei meinem Vater auf Arbeit unentwegt Ausnahmezustand, obwohl es sich um einen der weltweiten Branchenführer handelte. Mein Vater aber war erfolgreich und hat bis heute alle Krisen in der Firma überlebt. Ich bekam meinen Vater als Kind zwar kaum zu sehen, dafür lebten wir von einem überdurchschnittlichen Ingenieursgehalt, stiegen sozial auf, bauten ein Haus, fuhren ein Auto und mit diesem drei Mal im Jahr in den Urlaub.
Zeitgleich herrschte in Leipzig das Chaos. Mein Onkel berichtet mir in einem persönlichen Gespräch davon, wie er das Studium, mit dem er sich noch zu DDR-Zeiten begann weiterzuqualifizieren, abbrach, weil sich kein Nutzen darin erkennen ließ. Den angestrebten Abschluss gab es in der BRD nicht mehr, die Betriebe, in denen er damit arbeiten wollte, schlossen. Die gesamte wirtschaftliche Infrastruktur brach zusammen. Zuvor mäßig erfolgreiche Unternehmer aus Westdeutschland tobten sich mit experimentellen Geschäften aus, von denen die meisten scheiterten. Andere westdeutsche Unternehmen kauften ihre ostdeutsche Konkurrenz von vornherein mit dem Ziel auf, sie zu schließen und aus dem Weg zu räumen. Meine Familie in Leipzig kämpfte um ihre soziale Existenz: gegen den Verlust von Arbeitsplätzen, gegen die Schikanen von Arbeitsämtern und die Prekarisierung der Jobs, die sich finden ließen. Arbeit gab es häufig nur für kurze Zeit und schlecht bezahlt. Niemand aus der Leipziger Familie blieb davon verschont. Meine Tante schaffte es am konstantesten beschäftigt zu sein, allerdings nicht in ihrem gelernten Beruf, sondern in der extrem prekären Branche der Gebäudereinigung.
Die Gräben, die seither zwischen den Lebensverhältnissen in unserer Familie entstanden sind, haben sich in den letzten zwanzig Jahren gesamtgesellschaftlich kaum verbessert. Statistisch bleiben die Gehälter in Ostdeutschland deutlich geringer als für vergleichbare Arbeit in Westdeutschland, die Kluft zwischen unterschiedlichen Vermögenswerten wird größer statt kleiner und der Zugang zu Eliten bleibt Menschen mit ostdeutscher Biografie noch immer häufig verwehrt. Diese Tatsachen wurden in den letzten Jahren häufiger rezipiert, zuletzt von Katja Hoyer und Dirk Oschmann im Frühjahr dieses Jahres. Nicolas Richter liefert in dieser Ausgabe des Ostjournals interessante neue Zahlen dazu und veranschaulicht sie anhand zweier fiktiver Lebensgeschichten.
Symptome der Entfremdung
In meiner Familie zeigten sich die sozialen Unterschiede, vor allen in den 1990er Jahren, symptomatisch an meist unausgesprochenen Spannungen. Es fehlte ein gegenseitiges Verständnis, da alle in großem Maße mit sich selbst und der eigenen Existenzsicherung beschäftigt waren. Für die Kämpfe der Familie vor allem in Leipzig und in geringerem Maße in Berlin[1] hatten meine Eltern kaum noch Verständnis. Wenn es so unerträglich würde in Leipzig, könnte die Familie doch auch wegziehen. „Gehen oder Bleiben?“ – die große Frage in Ostdeutschland der 1990er Jahre und darüber hinaus. Dass meine Eltern dadurch die gängigen Stereotype vom „Jammerossi“ und damit die kapitalistische Grunderzählung vom „Jeder kann es schaffen!“, völlig unabhängig von irgendwelchen Privilegien, reproduzierten, war ihnen sicher nicht bewusst, denn gleichzeitig fühlten sich auch meine Eltern vom Rest der Familie unverstanden. Die hatten keine Ahnung von all den Entbehrungen, die der wirtschaftliche Erfolg mit sich brachte. Schließlich war die Erfolgsgeschichte der Karriere meines Vaters auch nur die halbe Wahrheit. Meiner Mutter, noch in Leipzig als Grundschullehrerin ins neue Schulsystem der BRD übernommen, wurde in Westdeutschland die Anerkennung ihres Bildungsabschlusses verwehrt. Überqualifiziert arbeitet sie seit dreißig Jahren im Kindergarten. Begegneten sich meine Eltern in der DDR beruflich auf Augenhöhe, setzte sich in der BRD das Patriarchat durch und meine Mutter ordnete sich der Karriere meines Vaters unter, auch um meine Versorgung sicherzustellen.
Meine eigenen Eingewöhnungsschwierigkeiten in Westdeutschland zeigten sich zunächst im Hauen und Gehauenwerden von Gleichaltrigen und im Ausgegrenztsein beim Inline-Hockey spielen und Skateboard fahren, weil meine Eltern den Konsumtrends nicht folgten und mir das Equipment fehlte. Einen Fußball bekam ich zum Spielen, der war schließlich zeitlos. Dummerweise spielten die meisten meiner Freunde im Verein und skeptisch waren meine Eltern auch in Bezug darauf, empfanden sie die Sportvereine der DDR doch zur sehr von einem politischen System vereinnahmt, welches sie ablehnten. Fußball im institutionalisierten Rahmen kam für sie in den ersten Jahren nicht in Frage. Man konnte doch auch einfach draußen auf der Wiese spielen. Da spielte ich dann häufig allein, wenn meine Freunde zum Training gingen. Später fand ich mehr Anschluss an die Gleichaltrigen in Westdeutschland. Dafür nahmen nun die Konflikte mit meinen Eltern zu. Ich beneidete die Familie in Leipzig und Berlin, die sich regelmäßig sahen und in meinen Augen viel näher zusammenstand.
All das große Entbehrungen, die es zu rechtfertigen galt, so bescheiden man auch war. Meine Eltern schafften sich keine Luxusgüter an, kauften sich keinen BMW oder Mercedes, sondern einen bodenständigen Opel. Bei aller Bescheidenheit, gönnte man sich natürlich trotzdem etwas. Wir gingen bei unseren Besuchen ins Leipziger Gewandhaus und abends essen im angesehenen Barthelshof in der Innenstadt. Unsere Familienfeiern fanden in rustikalen Gasthäusern mit Schlagermusik statt, wie jene in der Hochhaussiedlung meiner Urgroßeltern. Meine Oma empfand das Auftreten meiner Mutter mitunter lehrerhaft und prahlerisch, und quittierte das mit: „Mutti ist eine richtige Wessi-Tussi geworden!“ Meine Mutter verletzte das und sie reagierte mit Neidvorwürfen. Anderen migrantischen Communities kommen diese Spannungen mit der Familie zu Hause sicher bekannt vor.
Das Reisen zwischen Hessen und Sachsen, Ost- und Westdeutschland, blieb weitgehend einseitig. Meine Eltern und ich fuhren in die alte Heimat, aber entfernten uns besonders in den Anfangsjahren kulturell und vor allem sozial immer weiter von der Familie in Leipzig. Meine Oma kam gelegentlich zu Besuch. Ihr provinzielles Auftreten passte aber nicht in den bürgerlich-konservativen Moloch der hessischen Kleinstadt, in der wir lebten. Ihr sächsischer Akzent rief ebenso wie jener meiner Mutter Herabwürdigungen hervor. Ich kann die Schamgefühle nachempfinden, die mich dazu veranlassten meinen Akzent und kulturelle Gewohnheiten schnell abzulegen. Verständlich wenn die übrige Leipziger Familie die für sie ungleich größeren Reisekosten nicht aufbringen wollte, um sich das anzutun. Und so blieben meine Eltern und ich in Hessen zunehmend allein und für die Familie in Leipzig und Berlin wurden wir Fremde. Dafür fuhren wir ein Auto, dem wir in Anlehnung an den Herstellernamen den liebevollen Kosenamen „Opi“ verliehen. „Opi“ hatte die echten Opas in Leipzig und Berlin ersetzt.
Auswege
Die große Erfolgsgeschichte vom wiedervereinigten Land, von den Familien, die sich wiedergefunden haben – die Geschichte meiner Familie mag ein Einzelfall sein, aber auf uns trifft sie nicht zu, im Gegenteil. In meiner Familie hat der Beitritt der DDR zur BRD und die darauffolgenden Veränderungen zu groben Brüchen geführt, die sich erst langsam und mit viel Mühe verarbeiten und überwinden lassen. Unser Kontakt blieb immer aufrecht, aber vieles unausgesprochen, besonders die entstandenen sozialen Unterschiede. An denen hat sich auch in den letzten zwanzig Jahren wenig geändert. So unterschiedlich unsere Lebenserfahrungen seither geworden sind, sie sind natürlich nicht schwarz und nicht weiß. Alle unsere Geschichten beinhalten Differenzen und Kämpfe, Erfolg und Misserfolg. Das gegenseitige Zuhören scheint mir wichtig für eine Annäherung, die in meiner Familie bereits in Gang ist. Aber auch gesellschaftlich könnte dort ein Schlüssel liegen, um letztlich gemeinsam die Bekämpfung struktureller Ungleichheiten voranzutreiben, die hinter vielen persönlichen Brüchen liegen.
[1] Meine Großeltern in Berlin erreichten mit der Umbruchsphase bereits das Rentenalter und hatten weniger Schwierigkeiten. Meine Tante arbeitete im öffentliche Dienst und war, wenn auch selbst einigen Kämpfen ausgesetzt, verhältnismäßig privilegiert.
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Friedemann Wiese ist in Leipzig geboren, im Rhein-Main-Gebiet aufgewachsen und lebt jetzt in Berlin. Er schreibt gerne, meistens für sich selbst, gelegentlich auch für andere. Am liebsten erzählt er Geschichten, manchmal kommt er aber nicht umhin auch wissenschaftlich zu schreiben. Aktuell forscht er außer zu seiner Familiengeschichte auch zur sozial-ökologischen Transformation. Friedemann ist Mitglied der Ostjournal-Redaktion.