Kunst Gegen Rechts - Erfurt 2019 - Vilnius Passage

© Ausstellungsansicht KUNST GEGEN RECHTS, Werkraum, Erfurt, 2019

Ein Ge(j)spenst geht um in Europa

ГЕЙРОПА // Gejropa

Queer- und homofeindliche Politik ist in Russland eng mit nationalistischer und christlich-konservativer Mobilisierung verbunden. Über den Kampfbegriff Gejropa und seine Geschichte.

von Henriette Pesch
März 2023

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„Die Menschen waren schon immer törichte Opfer von Täuschung […] in der Politik, und sie werden es bleiben bis sie lernen, hinter allen moralischen, religiösen, politischen und sozialen Phrasen, Erklärungen und Versprechungen die Interessen dieser oder jener Klassen zu suchen.“ Vladimir I. Lenin, 1913

„Люди всегда были и всегда будут глупенькими жертвами обмана […] в политике, пока они не научатся за любыми нравственными, религиозными, политическими, социальными фразами, заявлениями, обещаниями разыскивать интересы тех или иных классов“ Ленин, 1913

Гейропа

Ein Neologismus zusammengesetzt aus den Wörtern гей (dt. gej/ homosexuell) und европа (dt. Europa) bezeichnet die in Europa (angeblich) vorherrschende tolerante Haltung gegenüber Menschen nicht-‚traditioneller‘ heterosexueller Orientierung. Im Zuge der Diskussionen bspw. über die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen in Frankreich begannen ab Anfang 2013 in Russland die Vorwürfe der „Entmoralisierung“ des Westens immer lauter zu werden und der Begriff Гейропа gewann zunächst in einschlägigen Internetforen und dann auch im breiteren öffentlichen/politischen Diskurs schnell an Popularität. Inzwischen meint Гейропа mehr als nur die Toleranz Europas gegenüber vermeintlichen ‚sexuellen Minderheiten‘. Die Begriffsgeschichte von Гейропа vereint in sich Vorstellungen vom Verfall von Nationaltraditionen, Geschlechterrollen, konservativ-christlichen Werten, ja der europäischen Demokratie im Allgemeinen. Гейропа ist in diesem Fall das Gegenstück zu Russland, welches als Bewahrer und Beschützer eben dieser konservativ-christlichen Werte dargestellt wird. Das geopolitische Geschichtenerzählen von Europa, Russland und ihren Gegensätzen hat seit den Farbrevolutionen in Osteuropa und dem Ausbruch des Ukrainekrieges weiter an Fahrt aufgenommen und sich zu einem vielschichtigen Diskurs entwickelt, der sich ausgehend vom Kreml gegen die souveräne Westbewegung der Ukraine und die Euroatlantische liberal-demokratische Hegemonie richtet.

Der Siegeszug des Гейропа-Narrativs und des damit verbundenen Diskurses über ‚traditionelle Werte‘ lässt sich an verschiedensten Beispielen illustrieren. Da wäre der Erfolg des Gesetzes zum Verbot der Propaganda homosexueller Werte: Am 11. Juni 2013 verabschiedete die Staatsduma Russlands ein Gesetz mit dem offiziellen Titel О защите детей от информации, причиняющей вред их здоровью и развитию (dt. „Zum Schutz der Kinder vor Informationen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schaden“).  Und nur kurz darauf im August 2013 verkündete Dmitrij Kiselëv, Moderator von Вести недели (dt. Nachrichten der Woche) und zuweilen betitelt als ‚Putins Mouthpiece’:

„Ich denke, dass es nicht ausreicht, Homosexuelle dafür zu bestrafen, dass sie Homosexualität unter Teenagern propagieren. Es sollte ihnen verboten werden, Blut und Sperma zu spenden, und ihre Herzen sollten im Falle eines Autounfalls begraben oder verbrannt werden, da sie nicht geeignet sind das Leben eines Anderen zu retten.“ Dmitrij Kiselëv, 2013. Talkshow auf Россия 1.

“Я считаю, что штрафовать геев за пропаганду гомосексуализма среди подростков мало. Им нужно запретить донорство крови, спермы, а их сердца в случае автомобильной катастрофы, зарывать в землю или сжигать как непригодные для продолжения чьей либо жизни.“ Dmitrij Kiselëv, 2013. Talkshow Россия 1. 

Nur vier Monate später wurde er von Putin höchstpersönlich zum Chef der neuen staatlichen Nachrichtenagentur Россия Сегодня (dt. Russland heute) ernannt. 2015 erschien dann Sodom  — ein antiwestlicher, anti-LGBTQI+ Propaganda Film von Arkadij V. Mamontov. Mamontov ist ein bekannter konservativer Journalist, der im Auftrag der Regierung Filme bzw. ‚Dokumentationen’ dreht, welche oft den Zweck haben, Kremlkritiker zu diffamieren. Er wurde am 28.02.2022 im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine von der EU auf die schwarze Liste gesetzt und sein gesamtes Vermögen eingefroren. Mit Sodom zeichnet er ein äußerst abschreckendes Bild von pädophilen Adoptiveltern und ‚Sodomie’ (gemeint: Homosexualität), angeblich ein amerikanischer Export, also spezifisch unrussisch.

Im Zuge der Präsidentschaftswahl tauchte drei Jahre später, im Februar 2018, ein weiteres Video im Internet auf. Obwohl eine Verbindung zum Kreml und den damals kurz bevorstehenden Wahlen nahe liegt, wurde dies von offizieller Seite abgestritten. Im Format eines Werbespots streitet hier ein Ehepaar über die Notwendigkeit wählen zu gehen. Der wahlfaule Ehemann schläft ein. Es folgt sein Albtraum: In seiner Küche sitzt ein homosexueller Mann, den seine Familie laut neuem Gesetz aufnehmen muss, da er seine Beziehung beendet hat. Findet er keinen neuen Freund, so ist der träumende Ehemann verpflichtet, mit ihm zu schlafen. Der Protagonist wacht auf und findet sich zu seinem Schrecken neben dem homosexuellen Mann im Bett.

Noch ein Video, diesmal in der Urheberschaft eindeutig zuzuordnen, erschien im Zusammenhang mit den russischen Verfassungsänderungen von 2020. Die Kampagne der russischen Федеральное Агентство Новостей (dt. Bundesnachrichtenagentur) zeigt Russland im Jahr 2035: Ein Mann möchte einen Jungen adoptieren. Die herzerwärmende Geschichte nimmt eine unerwartete Wendung, als der Adoptivvater dem Jungen seine ‚Mutter‘ vorstellt – ein anderer Mann, der Make-up trägt. Eine ernste Stimme fragt den Betrachter: „Такую Россию ты выберешь? Реши будущее страни. Голосуй за поправки в конституцию.“  („Ist dies das Russland, das du wählst? Entscheide über die Zukunft des Landes. Stimme für die Verfassungsänderungen“).

Meinungsmache

Diese medialen Produkte und auch Kiselëv’s Worte von 2013 verdeutlichen die fortdauernde Veränderung und Verschiebungen der Grenzen des Denk- und Sagbaren. Aussagen und Gedankengut wie dieses machen deutlich, was salonfähig ist, sogar gut anzukommen scheint. Denn auch die Meinungen russischer ‚Durchschnittsbürger:innen‘ spiegeln das wieder. So glauben diese zu großen Teilen, 61%, dass Homosexualität durch gesellschaftliche Umstände zustande kommt, nur 25% sind der Meinung, dass sie angeboren ist. Eine vom ВЦИОМ (dt. Allrussisches Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung) im Juni 2013 durchgeführte Umfrage zeigte weiter, dass die Mehrheit der Russ:innen, 88%, das Verbot der Propaganda von Homosexualität unterstützt, 42% sind der Meinung, dass nicht-‚traditionelle‘ sexuelle Orientierungen strafbar sein sollten. Laut einer vom Levada Centr im Juni 2012 durchgeführten Umfrage teilen 43% der Befragten die Ansicht, dass Schwule und Lesben an einem gestörten moralischen Empfinden leiden, während 32% annehmen, dass sie geistig eingeschränkt seien.

Die europäische/westliche Zivilisation wird also mithilfe des ГейропаDiskurses als degeneriert dargestellt. Ein klarer Beweis dafür sei die offensichtliche Zerstörung der dortigen ‚normalen‘ Geschlechterordnung. Sie äußere sich in der Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, dem wachsenden Einfluss des Feminismus und der Auslöschung der ‚traditionellen‘ Familieneinheit. Diese Ereignisse würden zwangsläufig zum Niedergang der europäischen Zivilisation führen, denn, so die Argumentation, sie pervertierten die menschliche Natur und zerstörten die Grundlagen menschlicher Gemeinschaften.

Jedwede politische Opposition, Organisation oder Person in Russland mache sich also allein aufgrund des Verdachts der Nähe zum Westen, der Verkündung von Meinungen und Ansichten, die als fremd und daher unrussisch angesehen werden, nicht nur des Verrats an der Nation, sondern auch der ‚sexuellen Perversion‘ schuldig. Russland hingegen soll als Opfer ‚perverser‘ europäischer Einflüsse erscheinen und wird zum Retter und Behüter der wahren konservativ-christlichen Werte stilisiert. Als Hochburg des Christentums und Bastion traditioneller Werte solle Russland Europa und die Welt retten. Dieses Narrativ wird durch staatlich organisierte Kommunikation und Propaganda verbreitet, um so (mit einigem Erfolg) die öffentliche Meinung aktiv zu formen.

Ideologische Kontinuitäten

Dieser Erfolg ist darin begründet, dass antiwestliche Narrative schon lange ein wichtiges Merkmal des russischen politischen und medialen Diskurses waren und sich unter verschiedensten Bezeichnungen über die letzten zwei Jahrhunderte hinweg gehalten haben. Der Гейропа-Diskurs ist somit eine Aktualisierung eines jahrhundertealten Motivs. Er vereint in sich verschiedene Konzepte und Bilder, die lange Tradition im russischen Kulturdiskurs haben. Das macht ihn so einfach annehmbar, so ‚leicht verdaulich‘.  Als Update des antieuropäischen Motivs bedient Гейропа sich zusätzlich zu seiner bereits ‚vererbten‘ Wirkmacht offensichtlich noch einer aktuelleren Komponente: der Homophobie. Das Гейропа-Narrativ, wie es in der russischen Öffentlichkeit verbreitet wird, ist eine Tragödie für Europa, und eine Warnung für Russland. Es verdeutlicht, was passieren könnte, wenn Russland den falschen Weg wählt. Гейропа steht hier für die Reinkarnation des sowjetischen Klischees vom dekadenten aber verdorbenen Westen, des Messianismus der Eurasianisten*, die Wiederauferstehung von Dostoevskijs Idee der ‚zwei Europa‘ und die Kontinuität des Antiwesternismus der Slawophilen.

Zudem ist die Erzählung von Гейропа an sich leicht zu verstehen: Feinde umkreisen die ‚Festung‘ der ‚traditionellen‘ Familie, die traditionelle Lebensweise, ‚kulturell-spirituelle Besonderheit‘ und ‚zivilisatorische Identität’ und hoffen diese zu zerstören. Einige dieser Feinde kommen von außen. Die größte Gefahr geht jedoch von inneren Feinden aus, die jeden Moment einen Gegner hereinlassen könnten oder das bereits getan haben. Der Diskurs um Гейропа wird so zu einer epischen Geschichte vom Kampf zwischen Gut und Böse. Liberalismus und Political Correctness werden als mächtige Waffen zur Zerstörung von Kultur, Moral, Familie und schließlich der staatlichen Souveränität dargestellt. Dieser Logik folgend stünde nicht einfach ein abstrakter Westen hinter den Bestrebungen, die traditionelle russische Lebensweise zu zerstören. Der konkrete Westen sei bereits zerstört, degeneriert und zu Гейропа/Sodom geworden, in dem gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt sind, die Rechte von ‚Perversen‘ und ‚Pädophilen‘ anerkannt werden, Frauen zu Männern und vice versa mutieren und Kinder aus ‚traditionellen‘ Familien gerissen und an wahlweise ‚Pädophile/Homos/Perverse‘ übergeben werden. So absurd das in dieser heruntergebrochenen, kondensierten Version klingen mag, solche Narrative sind seit ca. 2012 sowohl in der Außen- als auch in der Innenpolitik Russlands nahezu ideologischer Mainstream geworden.

Die hier besprochene Problematik der Homophobie ist keine spezifisch russische. Die Erkenntnis, dass Homosexualität natürlich und Homophobie konstruiert ist, ist hier wie dort unzureichend verbreitet. Der ‚Westen‘ kann ebensowenig als Ort ohne Homophobie rezipiert werden, wie Russland als ausschließlich homophober Ort. Dennoch ist der Diskurs über eben diese Probleme unglaublich wichtig und leider im Moment in Russland kaum möglich.

„Zu lange konnten patriarchale, hierarchische Strukturen jeglicher Art Wurzeln schlagen. Um sie nach und nach zu entfernen, bedarf es der theoretischen und praktischen Initiierung, im besten Fall Untermauerung der Emanzipationsprozesse beider Geschlechter.“ Brigitta Godel

Wir haben hier wie auch dort mit dem Patriarchat zu kämpfen, und diese patriarchale Kultur ist zu großen Teilen schuld an den aktuellen Ereignissen.

 

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*Eurasianismus – Idee einer Gruppe Historiker und Denker im Exil vom russischen Reich als „Eurasia“. Kritik an der (angeblichen) Universalität und Hegemonie der europäischen Kultur. Eurasianisten waren klar anti-westlich eingestellt und legten großen Wert auf die historischen Verbindungen zwischen den Völkern im Eurasischen Raum. Orthodoxie als abgrenzendes und  definierendes Moment Bsp: russische Menschen seien durch den Verlauf ihrer Geschichte das auserwählte Volk, dazu bestimmt den Weg zum „himmlischen Jerusalem“ zu ebnen.

Henriette Pesch ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Nach Beginn ihres Studiums (Russisch/Musikwissenschaften) verschärfte sich ihr Fokus auf die russische Kulturlandschaft. Sie setzt sich in ihrer Forschung mit Geopoetiken, Geopolitik und russischer moderner Kultur auseinander. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

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