KGR, Gera 2021, Galerie Sorglos

© Ausstellungsansicht KUNST GEGEN RECHTS, Galerie Sorglos, Gera, 2021

Schlussplädoyer

Das letzte Wort

Regierungskritisch in Russland. Das Schlussplädoyer der Redakteurin im politischen Prozess gegen die Studizeitschrift DOXA spricht aus persönlicher Sicht über Freiheit, Gewalt und Repression.

von Alla Gutnikova
Übersetzung von Mikhail Konovalenko, Karina Papp, Dominic Timm, Daria Kolesova

 

 

In dieser Ausgabe des Ostjournals richten wir den Blick auf Rechte Mobilisierung. Geht sie vom Staat selbst aus, nimmt sie etwa die Form von Polizeigewalt und politischen Strafprozessen an, von Illegalisierung oppositionellen Protests und Einschränkung der Rechte per Gesetz. So in Russland, wo im April 2021 vier Redakteur:innen der Studierendenzeitschrift DOXA festgenommen wurden. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen vor, sich mit Schüler:innen und Student:innen solidarisiert zu haben, die aufgrund ihrer Beteiligung an regierungskritischen Protesten von ihren Schulen und Universitäten verwiesen wurden. Sie wurden angeklagt, „Minderjährige in Handlungen verwickelt zu haben, die eine Gefahr für ihr Leben darstellen“. Es folgten Durchsuchungen der Redaktionsräume und der Privatwohnungen der Redakteur:innen. Arbeitsgeräte wurden beschlagnahmt. Mittlerweile ist DOXA von den russischen Behörden als unabhängiges, regierungskritisches Medium verboten worden und berichtet entschlossen aus der Illegalität zu oppositionellen wie feministischen Themen und den Anliegen der Jugend in Russland und ist heute eines der lautesten russischen Antikriegs-Medien, z.B. auf Telegram.

Ein Jahr lang standen die vier angeklagten Redakteur:innen unter Hausarrest bis das Gericht im April vergangenen Jahres das Urteil sprach. Strafmaß: zwei Jahre Strafarbeit. Eine der vier ist Alla Gutnikova, die zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung eigentlich ihre Abschlussarbeit über Walter Benjamin verteidigen sollte. Im Strafprozess hat sie ein sehr persönliches politisches Schlussstatement vorgetragen, das wir hier erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlichen.

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Schlussplädoyer von Alla Gutnikova: 

Das letzte Wort

Alla Gutnikova

Alla Gutnikova (Foto Elizaveta Orlovskaya)

Deutsch von Mikhail Konovalenko, Karina Papp, Dominic Timm, Daria Kolesova

Ich werde nicht über den Prozess und die Hausdurchsuchung sprechen, über die Verhöre, die Akten und die Gerichtsverhandlungen. Das ist langweilig und sinnlos. In letzter Zeit besuche ich die Schule der Müdigkeit und Frustration, aber schon vor meiner Verhaftung schrieb ich mich in die Schule des Redens über wirklich wichtige Dinge ein [1].

Ich würde gerne über Philosophie und Literatur sprechen. Über Benjamin, Derrida, Kafka, Arendt, Sontag, Barthes, Foucault, Agamben, über Audrey Lorde und bell hooks. Über Oksana Timofejewa, Madina Tlostanowa und Maria Rachmaninowa.

Ich würde gerne über Poesie sprechen. Darüber, wie man zeitgenössische Lyrik liest [2]. Über Michail Gronas, Grigori Daschewski und Wasja Borodin.

Doch jetzt ist weder die rechte Zeit noch der Ort dafür. Ich werde meine zarten kleinen Worte auf der Spitze meiner Zunge verstecken, in der Tiefe meiner Kehle, zwischen dem Magen und dem Herzen [3]. Und ich werde nur wenig sagen.

Ich fühle mich oft wie ein Fischlein, ein Vöglein, ein Schulkind, ein Baby. Aber vor kurzem habe ich mit Erstaunen erfahren, dass Joseph Brodsky auch mit 23 Jahren vor Gericht stand. Und da auch ich zum Menschengeschlecht gezählt worden bin [4], werde ich so sprechen:

In der Kabbala gibt es das Konzept des Tikun Olam – der Reparatur der Welt. Ich sehe, dass die Welt nicht ideal ist. Ich glaube, dass die Welt, wie Jehuda Amichai schrieb, schön erschaffen wurde, dafür, dass alles gut sei, und für Ruhe, wie eine Bank in einem Garten (einem Garten, keinem Gericht!). Ich glaube daran, dass die Welt für Zärtlichkeit, Hoffnung, Liebe, Solidarität, Leidenschaft und Freude geschaffen ist.

Aber in der Welt gibt es ein schreckliches, unerträgliches Ausmaß von Gewalt. Und ich will keine Gewalt. Ich will keine ihrer Formen. Keine Hände eines Lehrers in den Unterhosen von Schülerinnen, keine Fäuste eines betrunkenen Familienvaters auf den Körpern von Frauen und Kindern. Wenn ich mich dazu entschließen würde, alle Gewalttaten um mich herum aufzulisten, würde dafür weder ein Tag reichen, noch eine Woche, noch ein Jahr. Um die Gewalt um uns herum zu sehen, müssen wir nur die Augen öffnen. Meine Augen sind offen. Ich sehe Gewalt, und ich will keine Gewalt. Je mehr Gewalt ich sehe, desto mehr will ich sie nicht. Und am wenigsten will ich die allergrößte, allerschrecklichste Gewalt.

Ich lerne wirklich gerne. Von nun an werde ich mit den Stimmen anderer sprechen. Im Geschichtsunterricht habe ich diese Sätze gelernt: “Ihr kreuziget die Freiheit, aber die Menschenseele kennt keine Fesseln” [5] und “Für eure und unsere Freiheit” [6].

In der Oberschule las ich das “Requiem” von Anna Andrejewna Achmatowa, “Gratwanderung” von Jewgenija Salomonowna Ginzburg, “Das abgeschaffte Theater” von Bulat Schalwowitsch Okudschawa und “Die Kinder vom Arbat” von Anatoli Naumowitsch Rybakow. Bei Okudschawa hat mir dieses Gedicht am besten gefallen:

Gewissen, Edelmut und Würde:
dies sei unser heiliges Heer.
Gib ihm deine Hand.
Selbst durchs Feuer kann man für es gehen.

Sein Antlitz ist erhaben und wundervoll.
Weihe ihm dein sanftes Leben:
Es mag sein, du siegst nicht,
aber dafür stirbst du als Mensch! [7]

Am Institut für Internationale Beziehungen Moskau, habe ich Französisch gelernt und Bekanntschaft mit einer Zeile von Édith Piaf gemacht: “Ça ne pouvait pas durer toujours”. Und eine andere, von Marc Robine: “Ça ne peut pas durer comme ça”.

Als ich neunzehn war, reiste ich nach Majdanek und Treblinka, da habe ich erfahren, wie man in sieben Sprachen “nie wieder” sagt: никогда больше, never again, jamais plus, לא עוד, nigdy więcej, קיינמאל מער.

Ich studierte die jüdischen Weisen, und am besten gefielen mir zwei Sprüche. Rabbi Hillel sagte: “Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich? Solange ich aber nur für mich selber bin, was bin ich? Wenn nicht jetzt, wann sonst?” Und Rabbi Nachman sagte: “Die ganze Welt ist eine schmale Brücke und Hauptsache ist, gar keine Angst zu haben.”

Dann habe ich ein Studium an der School of Cultural Studies in Moskau aufgenommen und noch ein paar weitere wichtige Lektionen gelernt. Erstens: Worte haben Bedeutung. Zweitens: Man muss die Dinge bei ihrem Namen nennen. Endlich: sapere aude, das heißt: Habe Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen.

Es ist komisch, es ist absurd, dass unser Prozess mit Schulkindern zu tun hat. Ich habe Kindern Unterricht in Geisteswissenschaften auf Englisch gegeben, als Kinderfrau gearbeitet, träumte davon, im Rahmen des Programms “Lehrer für Russland” für zwei Jahre in eine Kleinstadt zu ziehen, um Gutes, Vernünftiges, Ewiges zu säen. Aber Russland – mit den Worten des Staatsanwalts Triakin – meint, dass ich Minderjährige in lebensgefährliche Tätigkeiten hineingezogen hätte. Wenn ich je einmal Kinder haben sollte (und ich werde welche haben, denn ich erinnere mich an das vorderste Gebot), werde ich ihnen das Porträt des Prokurators von Judäa, Pontius Pilatus, an die Wand hängen, damit sie in Reinlichkeit aufwachsen. Prokurator Pontius Pilatus steht und wäscht sich die Hände – dies wird das Porträt sein. Ja, wenn es jetzt lebensgefährlich ist, zu denken und nicht gleichgültig zu sein, dann weiß ich nicht, was ich zum Inhalt der Anklagepunkte sagen sollte. Ich wasche meine Hände in Unschuld. [8]

Nun aber ist der Moment der Wahrheit. Das Jetzt der Lesbarkeit.

Wie ich selbst, so finden auch meine Freunde und Freundinnen keine Ruhe mehr vor dem Grauen und den Schmerzen, aber wenn ich in die Metro hinunter gehe, sehe ich keine verweinten Gesichter. Ich sehe keine verweinten Gesichter.

Keines meiner Lieblingsbücher – seien sie für Kinder oder für Erwachsene – hat mich Gleichgültigkeit, Indifferenz und Feigheit gelehrt. Nirgends wurden mir solche Worte beigebracht:

wir sind doch kleine leute
ich bin ein einfacher mensch
so einfach ist es nicht
man darf niemandem vertrauen
daran bin ich eigentlich nicht interessiert
ich habe nichts mit der politik zu tun
das betrifft mich nicht
auf mich kommt es nicht an
die zuständigen behörden kümmern sich darum
was kann ich allein denn schon tun

Im Gegenteil, ich kenne und liebe ganz andere Worte.

John Donne spricht durch Hemingway:

“Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.”

Mahmud Darwisch spricht:

Denk an den Andern
Wenn du dein Frühstück bereitest, denk an den Andern
und vergiss nicht das Futter der Tauben.
Wenn du in deine Kriege ziehst, denk an den Andern
und vergiss nicht jene, die Frieden fordern.
Wenn du deine Wasserrechnung begleichst, denk an die Andern,
die ihr Wasser aus den Wolken saugen müssen.
Wenn du zu deinem Hause zurückkehrst, deinem Hause, denk an den
Andern und vergiss nicht das Volk in den Zelten.
Wenn du schlafen willst und die Sterne zählst, denk an den Andern,
der hat keinen Raum zum Schlafen.
Wenn du dich mit Wortspielen befreist, denk an den Andern
und denk an jene, die die Freiheit der Rede verloren.
Wenn du an die Anderen in der Ferne denkst, denke an dich,
und sage: wäre ich doch eine Kerze im Dunkeln. [9]

Gennadi Golowati spricht:

Die Blinden können nicht zornig blicken,
Die Stummen können nicht rasend schreien,
Die Armlosen können nicht Waffen halten,
Die Beinlosen können nicht vorwärts schreiten.
Aber – die Stummen können zornig blicken,
Aber – die Blinden können rasend schreien,
Aber – die Beinlosen können Waffen halten,
Aber – die Armlosen können vorwärts schreiten. [10]

Einige, ich weiß es, haben Angst. Sie wählen das Schweigen.

Aber Audre Lorde sagt:

Your silence will not protect you.

In der Moskauer Metro wird gesagt:

Kein Fahrgast darf sich im Zug aufhalten, wenn dieser aufs Abstellgleis fährt.

Und die Petersburger Band “Aquarium” fügt hinzu: Dieser Zug steht in Flammen.

Laozi spricht durch Tarkowski:

Vor allem: Mögen sie an sich glauben und hilflos werden wie Kinder. Denn Schwäche ist groß, doch Stärke ist nichtig. Wenn ein Mensch geboren wird, ist er schwach und biegsam, und wenn er stirbt, so ist er hart und starr. Wenn ein Baum wächst, ist er zart und biegsam, und wenn er trocken und hart ist, stirbt er. Härte und Stärke sind die Gefährten des Todes. Schwäche und Biegsamkeit bekunden die Frische eines Daseins. Darum: Was hart geworden ist, wird nicht siegen.

Vergesst nicht: Angst essen Seele auf. Vergesst nicht den kafkaschen Helden, welcher im Gefängnishof einen Galgen aufrichten sah, irrtümlich glaubte, es sei der für ihn bestimmte, in der Nacht aus der Zelle ausbrach, hinunterging und sich selbst aufhängte.

Seid wie die Kinder. Fürchtet euch nicht zu fragen (euch selbst und die anderen): Was ist gut und was ist schlecht? Fürchtet euch nicht zu sagen, dass der Kaiser nackt ist. Fürchtet euch nicht, aufzuschreien, in Tränen auszubrechen. Sagt es immer wieder (euch selbst und den anderen): 2+2=4. Schwarz ist Schwarz. Weiß ist Weiß. Ich bin ein Mensch, ich bin stark und tapfer. Wir sind stark und tapfer. Stark und tapfer.

Freiheit ist der Prozess, durch den man eine Praxis entwickelt, die einen für Knechtschaft unverfügbar werden lässt. [11]

 

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[1] Alla beruft sich hier auf ein Gedicht von Jekaterina Sokolowa.
[2] “Wie man zeitgenössische Lyrik liest” war der Titel des bekannten Essays von Grigori Daschewski (2012).
[3] Zitate aus einem Gedicht von Mikhail Gronas.
[4] Alla beruft sich hier auf eine Antwort von Joseph Brodsky während des Prozesses im Jahr 1964, übermittelt in Frida Wigdorovas Niederschrift: Die Richterin: Wer hat es anerkannt, dass Sie ein Dichter sind? Wer hat Sie zu Dichtern gezählt? Brodsky: Niemand. Und wer hat mich zum Menschengeschlecht gezählt?
[5] Ein Motto, am 3. August 1976 an der Wand der Peter-und-Paul-Festung zu Leningrad von den sowjetischen Künstlern Juli Ribakow und Oleg Wolkow geschrieben.
[6] Ein traditionelles polnisches Widerstandsmotto, auch ein bekanntes Spruchband der Antikriegsdemonstration, die 1968 auf dem Roten Platz stattfand.
[7] Hier in Überzetzung von Mikhail Konovalenko.
[8] Dieser ganze Absatz stellt ein von Alla leicht verändertes Zitat aus W. Jerofejews “Moskau-Petuschki” dar. Hier in der Übersetzung von Peter Urban.
[9] Hier in Übersetzung von Hakan Abd al-Had.
[10] Hier in Überzetzung von Mikhail Konovalenko.
[11] Hier ein Zitat von: Nelson, Maggie (2022). Freiheit. Vier Variationen über Zuwendung und Zwang. ÜS Cornelius Reber. Berlin: Hanser. S. 21. 

Alla Gutnikova (*1998), ehemalige politische Gefangene und ehemalige Redakteurin von DOXA. Sie ist Dichterin, Kulturologin und Aktivistin. Mittlerweile hat sie Russland verlassen und lebt in Berlin.

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